Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen


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na«, sagte ein anderer schnell mit mildem Vorwurf in der Stimme.

      »Ach, die Kleine, die hört doch nichts«, tönte wieder die Stimme des Ersten.

      Gleichzeitig spürte Marlene, wie jemand sie leicht an der Schulter berührte. Aber das konnte sie nun auch nicht mehr besänftigen.

      Ihr Herz begann zu rasen. In ihrer heiß aufsteigenden Wut wollte sie schreien: »Oh doch! Ich kann alles hören – und zwar sehr gut! Gulasch?! Von wegen! Ich werde es euch schon noch zeigen!«

      Aber über ihre Lippen kam statt eines lautstarken Protestes gegen jene zynische Bemerkung nur wieder so ein schwaches Gurgeln, wie sie es schon einmal von sich gegeben hatte, als sie, gleich nach dem Unglück, etwas sagen wollte. Allerdings war das Geräusch diesmal laut genug, um die beiden Ärzte aufhorchen zu lassen.

      »Sie steht unter Schock«, konstatierte Dr. Grunert.

      Keiner der Männer konnte ahnen, was in diesem Moment in Marlene vorging. Sie war ganz und gar von einem einzigen übermächtigen Gedanken erfüllt: LEBEN! Nur das wollte, nein, musste sie! Unbedingt leben!

      Wie hatte doch die alte Zigeunerin gesagt, als sie dreizehn war?

       Immer, wenn Katastrophe vorbei, dann musst du aufrichten dich – wie ein Stehaufmännchen!

      Aber war denn die Katastrophe vorbei? Noch schien sie davon eher sehr weit entfernt zu sein. Doch sie würde kämpfen, das wusste sie jetzt. Kämpfen, wie sie es immer getan hatte. Sie hatte ja das beste Motiv, das eine Mutter nur haben kann: ihre drei Kinder.

      Sie sind die Einzigen, die mich wirklich brauchen, dachte sie, während sie sich verzweifelt gegen die endgültige Dunkelheit wehrte. Nicht umsonst sagte man ja, dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes sei.

      Ihr geschundener Körper summte, dröhnte, schmerzte.

      Alex kam ihr wieder in den Sinn. Hatte ihn nicht jemand durch die Luft fliegen sehen? Oder hatte sie sich verhört? Ob er womöglich auch Schmerzen hatte? Wo mochte er jetzt sein?

      Fragen über Fragen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Aber niemand konnte sie hören oder gar beantworten.

      Als sie fühlte, wie die Dunkelheit sich anschlich, um sie erneut zu überfallen, hatte sie mit einem Mal keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Geradezu dankbar ließ sie sich fallen. Vielleicht würde sie ja wieder neue Kraft schöpfen können, während sie schlief.

      6. Schreiben statt sprechen

      Als Marlene erwachte, schämte sie sich für das Gefühl der Dankbarkeit, mit dem sie – vor langer Zeit? – in die Dunkelheit geglitten war.

      Wo war sie? Sie nahm etwas Helles hinter ihren geschlossenen Lidern wahr. Licht? Neonlicht! Sie hörte die Röhre summen. Gott sei Dank! Sie lebte!

      Mach die Augen auf!, befahl sie sich in Gedanken, doch das wollte nicht so recht klappen. Das Licht blieb weiter seltsam gedämpft. Hatte sie ein Laken über dem Kopf? Ihre linke Hand tastete ziellos umher, aber sie schaffte es wohl nicht allein, sich zu befreien …

      Da kam jemand in leichten Sandalen herangetrippelt.

      »Oh, Sie sind wach? Ich bin Schwester Christel. Sie hatten einen Unfall, oh, verzeihen Sie, jemand hat Sie bis oben hin zugedeckt. So, weg damit, jetzt ist es besser, hm?«

      Der Redeschwall der Schwester klang wie Vogelgezwitscher.

      Vorsichtig versuchte Marlene, die Augen noch ein wenig weiter zu öffnen. Aber nur das rechte Auge gehorchte, auf dem linken fühlte sie einen leichten Druck. Einen Verband?

      Einäugig konnte sie erkennen, dass sie in einem hellen Raum lag, dass neben ihrem Bett so ein metallener Nachtschrank stand, wie es in Krankenhäusern üblich war. Dahinter entdeckte sie ein zweites Bett. Auch darin befand sich ein Wesen unter der Bettdecke. Nur ein Büschel grauer Haare lugte hervor. Aus der Tatsache, dass sich die Bettdecke gleichmäßig hob und senkte, schloss Marlene, dass dort jemand schlief.

      Schließlich geriet die junge, blonde Schwester, die sie aufgedeckt hatte, ins Blickfeld ihres einen Auges. Als Marlene ihr Lächeln sah, wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz.

      Dass inzwischen noch ein paar Ärzte ihr Bett umringten, bekam sie jetzt erst mit.

      »Wie geht es Ihnen, Frau Altmann?«

      Was sollte sie darauf antworten? Und vor allem: wie?

      Das musste sich in dem Moment wohl auch der Arzt gefragt haben, denn er lächelte ihr freundlich zu, bevor er weitersprach.

      »Sie hatten einen schweren Unfall. Ein Kranausleger ist von einem Tieflader heruntergerutscht … ach, ersparen wir uns und Ihnen erst einmal die Einzelheiten.«

      Die anderen nickten und raunten.

      Marlenes einäugiger Blick glitt an einem frisch gestärkten weißen Kittel empor bis zu einem Gesicht, das ihr auf Anhieb gefiel. Es gehörte zu einem Mann, der vielleicht zehn oder zwanzig Jahre älter war als sie. Seine Augen unter buschigen Brauen hatten eine undefinierbare Farbe, aber sie wirkten irgendwie weise und gütig. Diesen Eindruck verstärkte noch sein nicht besonders hochgewachsener, aber ziemlich kräftiger Körper. Sie hätte es mit nichts als einem vagen Gefühl begründen können, doch es war einfach so: Diesem Menschen vertraute Marlene sofort. Offenbar war sie noch immer auf Vatersuche. Trotz der vielen Väter, die ich hatte, dachte sie schon fast belustigt, schob aber den Gedanken gleich wieder beiseite.

      »Alles ist aber noch recht glimpflich abgegangen …«, hörte sie den Arzt sagen.

      Ein Satz mit sehr beruhigender Wirkung. So nahm sie auch gar nicht so bewusst auf, dass zuvor auch von einem Schädelbasisbruch, von etlichen Fissuren und Frakturen die Rede gewesen war.

      »Der rechte Arm ist aber in Ordnung. Können Sie sprechen?«

      Nie hätte Marlene es für möglich gehalten, wie schwer unter solchen Umständen allein schon der Versuch sein konnte, den Kopf zu schütteln. Ein jüngerer Arzt hatte es dennoch bemerkt und machte seinen Chef darauf aufmerksam.

      Der nickte und fragte: »Schreiben? Ginge das?«

      Ein mutiger, obgleich zaghafter, weil schmerzhafter Nick-Versuch. Es klappte wider Erwarten.

      Sofort lief die kleine Schwester los, kam kurz darauf mit einem Stift und einem Schreibblock wieder. Sie war so schnell gelaufen, dass sich eine Strähne ihrer sorgfältig aufgesteckten Frisur gelöst hatte, was Schwester Christel jedoch keineswegs zu stören schien. Sie schien überhaupt oft und gern fröhlich zu sein.

      Als Marlene den Stift nehmen wollte, kam es ihr vor, als sei ihre Hand eingeschlafen. Der Stift kullerte hinab auf den Fußboden. Schwester Christel hob ihn auf, drückte ihn Marlene wieder in die Hand, umschloss sanft ihre Finger. Ganz warm fühlte es sich an, als sie den Stift mit ihr gemeinsam einen Moment lang festhielt. Mit einem aufmunternden Lächeln ließ die Schwester langsam locker, bis Marlene den Kugelschreiber mit drei Fingern selbst halten konnte. Der Block wurde so an einem Ständer festgeklemmt, dass die Patientin gut herankam. Die Schwester blieb noch einen Moment an Marlenes Bett, während die kleine Ärztekarawane schon weitergezogen war, zum nächsten Bett. Von dort war leises Gemurmel zu hören. Oma Grauschopf war wohl aufgewacht.

      Marlene kümmerte sich nicht weiter darum, sie hatte ja etwas viel Wichtigeres zu tun! Sie wollte und musste etwas Lesbares aufs Papier bringen. Nichts war jetzt wichtiger als dieser Schreibversuch. Schließlich war es geschafft! Blau und krakelig stand auf dem grauen Kästchenpapier: Wie geht es meinem Sohn?

      Schwester Christel nickte verständnisvoll und kräuselte die Lippen, strich sich nun doch die vorwitzige Haarsträhne zurück und steckte sie fest, bevor sie antwortete.

      »Es geht ihm gut«, sagte sie, »soviel ich weiß, ist er nicht ernsthaft verletzt …«

      Marlene hörte nicht mehr weiter zu, ihre Hand war schon wieder am Schreiben.

      Es ging schon viel