Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen


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es nicht mehr dauern, bis auch das vierte Bett in ihrem Zimmer belegt sein würde.

      Als Marlene auf der wackligen Krankentrage durch den Flur gerollt wurde, standen mehr Patienten als sonst Spalier.

      Hinter vorgehaltener Hand raunten sie sich zu, dass sie ja so fruchtbar nun auch wieder nicht aussähe … hm, wer weiß, wenn erst der Verband vom Auge entfernt werden würde … ob es womöglich tatsächlich nicht mehr in seiner Höhle sei?

      Marlene war das Raunen und Wispern der Leute äußerst unangenehm, fast wie am Unfalltag Ende April.

      Sie schloss die Augen, während sie noch immer einen langen Flur entlanggeschoben wurde. So sah sie zwar nicht die vielen Gestalten, was aber nicht hieß, dass sie nicht gesehen wurde.

      Auch den Stimmen entging sie dadurch keineswegs.

      »Das war ja innerhalb einer Woche schon der zweite Unfall in Blocksdorf!«

      »Klar, auch mit Schädelbasisbruch und allem Drum und Dran …«

      Es waren Männer, die genüsslich auch noch so manches andere Detail aus den beiden Unglücksfällen erörtern würden. In dem Punkt war sich Marlene fast sicher.

      Und da heißt es immer, dass nur Frauen gerne tratschen, dachte sie und öffnete die Augen. Über den kleinen, aber unverkennbaren Anflug von Heiterkeit, den die beiden Gestalten in ihren abgewetzten Bademänteln in ihr auslösten, war sie selbst überrascht.

      Dass sie durch den Unfall zu einer Art Berühmtheit in dieser Region geworden war, interessierte sie kaum. Sie wollte nur so schnell wie möglich gesund werden.

      Rumms! Was war das? Sie war mit der mobilen Trage gegen eine Zimmertür gestoßen. Von drinnen riefen mehrere fröhliche Stimmen »Herein!«

      Einer der Pfleger öffnete die Tür. Marlene wurde ins Zimmer geschoben und sofort in ihr frisch bezogenes Bett gehoben. Sie war recht dankbar dafür, denn ein zweites Mal, von einer Liege auf die andere? Wer weiß, ob sie das geschafft hätte. Kaum hatte sie sich ins Kissen sinken lassen, hörte sie ein kratziges »Guten Tag«. Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen! Das war doch ihre eigene Stimme? Sie konnte sprechen?

      Das wollte sie gleich noch einmal probieren.

      »Guten Tag – oh mein Gott, ich kann ja sprechen!«

      Ihre Worte schallten wie ein Jubelschrei durch den Raum.

      »Guten Tag!«, schallte es gleich dreifach zurück, begleitet von fröhlichem Gelächter.

      Die Krankenpfleger zwinkerten Marlene und auch der inzwischen eingetroffenen Schwester zu und ließen sich von der guten Stimmung anstecken.

      Eine kleine, dünne Oma, hinten rechts am Fenster, fasste sich als Erste wieder und fragte trocken: »Wieso, waren Sie taubstumm?«

      Der Schalk in ihren Augen war nicht zu vergleichen mit dem Habichtblick ihrer Bettnachbarin aus der vorigen Klinik. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Marlenes Gesicht, aber dann verließ sie die Kraft …

      Was wohl die Kinder und Jürgen sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie schon sprechen und sogar lachen konnte? Bei diesem Gedanken fühlte sie, wie sich das Lächeln wieder auf ihrem Gesicht breitmachte.

      Die andere Frauen im Zimmer bemerkten erstaunt, dass die junge Frau selbst im Schlaf noch ein Weilchen lächelte.

      11. Endlich wieder sehen können?

      So vergingen die Tage in regelmäßigem, Krankenhaus üblichem Rhythmus. Fieber messen, Puls fühlen, waschen, Betten machen, Stäubchen aufwirbeln, Schieber, waschen, Frühstück, Visite, Medikamente. Untersuchungen, Mittagessen, Schieber, Waschen, Schlafen, Vesper.

      Besuchszeit – schönste Zeit!

      Allerdings durften Besucher damals nur mittwochs, samstags und sonntags kommen. Dieser Tag war erst Dienstag.

      Dafür gab es ein anderes, fast ebenso freudiges Ereignis. Der Kopfverband wurde Marlene endgültig abgenommen. Auch sollte sie mal mit dem linken Auge probieren zu gucken. Eine freundliche Ärztin, vielleicht so um die vierzig, saß an Marlenes Bett.

      »Öffnen Sie bitte das Auge«, bat sie und hielt einen Kugelschreiber mit der Spitze nach oben in einem Abstand von etwa einem halben Meter vor das Gesicht der Patientin.

      »Was sehen Sie?«

      Marlene sah tatsächlich etwas: zwei Hände, zwei Ringe, zwei Kugelschreiber mit metallenen Spitzen. Vorsichtig beäugte sie die andere Hälfte der Ärztin. Aber auch dort befanden sich zu allem Überfluss noch zwei Arme, zwei Hände und so weiter. Da war doch offenbar etwas faul!

      »Kann es sein, dass ich alles doppelt sehe?«

      Die Ärztin nickte. Ein wenig nachdenklich und bekümmert, wie es Marlene schien.

      »Aber das kriegen wir schon wieder hin«, wiegelte sie gleich darauf ab. »Wir fahren noch heute zur Gesichtsfeld-Kontrolle. Das kann nur in dem Krankenhaus vorgenommen werden, in dem Sie in den ersten Wochen nach Ihrem Unfall gelegen haben.«

      Was? Wieder zurück nach Hoywoy? Hätten die das dort nicht gleich mit erledigen können?, schoss es Marlene durch den Kopf. Laut sagte sie nichts, denn sie schätzte das womöglich völlig falsch ein. Da war es erst einmal besser, seine Gedanken für sich zu behalten.

      In dem anderen Krankenhaus verlief die Untersuchung flott und reibungslos.

      Wenn Marlene allerdings geglaubt hatte, dass danach alles gut sein würde, so hatte sie sich getäuscht.

      Für ihre Augen änderte sich auch nach der Kontrolle und der sich daran anschließenden Therapie nicht sofort etwas. So hatte Marlene noch einige Wochen lang das zweifelhafte Vergnügen, alles doppelt und übereinander zu sehen.

      Nur ganz allmählich passten sich ihre Sehnerven wieder der Umwelt an, und ihr Sehen normalisierte sich. Fast wie von selbst.

      12. Besuch - unerwartet

      Inzwischen war es Juni geworden.

      Wie groß war die Freude, als sie ihrer Familie berichten konnte, dass der Gips von ihren Beinen bald abgenommen werden könnte.

      In diesen Wochen hatten sie wirklich schon alle besucht: Birgit war mit der Schönberg-Oma aus dem Erzgebirge angereist, Karsten mit Jürgen aus Blocksdorf und ihr Nachkömmling Alex mit Oma und Opa aus dem Spreewald.

      Ihr Mann kam natürlich auch allein ins Krankenhaus, nur die Abstände zwischen seinen Besuchen wurden immer größer.

      *

      An einem Sonntag, die Besuchszeit war schon fast zu Ende, klopfte es an die Krankenzimmertür. Ziemlich zaghaft.

      Marlenes Besuch war schon weg, sonst hätte Jürgen womöglich noch den Bus verpasst. Auch die Enkeltochter der Fenster-Omi war gegangen, weil ihr Freund schon lange auf sie wartete. Bei den anderen beiden Frauen saß noch die liebe Verwandtschaft und tauschte Krankengeschichten aus. Marlene schnappte manchmal ein paar Worte auf und schmunzelte in sich hinein. Auch jetzt, denn es ging wieder einmal darum, wer nun die meisten Gallenkoliken in seinem Leben gehabt hatte und woher sie rührten.

      »Alles reingefressener Ärger – und dann läuft eben eines Tages die Galle über«, schnappte Marlene die Weisheit einer fülligen, älteren Dame auf, die sich gerade daranmachte, ihre Bluse hochzuziehen, um die stattliche, rote Narbe ihrer eigenen Gallen-OP zu präsentieren.

      Den unbekannten Mann an der Tür beachtete niemand. Marlene bemerkte, dass er sich suchend umschaute. Bei keiner der Frauen leuchtete auch nur das kleinste Fünkchen von Erkennen auf. Der Unbekannte schien sich nun doch endlich ein Herz zu fassen und fragte: »Frau Altmann?«

      »Das bin ich. Bitte?«

      »Ja, also hm, ich bringe Ihnen hier etwas.« Er kam langsam auf ihr Bett zu. »Ich musste unbedingt die Reise noch einmal machen, um zu sehen, wie es