Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen


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auf Jürgen konnte sie wohl in diesem Punkt – trotz der neuen und schwierigen Bedingungen – kaum zählen. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre älter als Karsten, ihr Großer. Anfangs hatte sie das gute Gefühl gehabt, dass er dem Jungen wirklich so etwas wie ein Freund sein wollte. Aber Karsten traute ihm wohl nicht, ließ ihn immer wieder spüren, wie sehr er den Mann seiner Mutter ablehnte. So hatten sich die Fronten allmählich immer mehr verhärtet.

      Birgit hingegen, drei Jahre jünger als ihr großer Bruder, sehnte sich sehr nach einem Vater. An ihren eigenen hatte sie gar keine Erinnerungen. Dafür war Marlene dem natürlichen Vergessen sehr dankbar. Sie war ganz sicher, dass ihr erster Mann für alle Erniedrigungen, für seelische und körperliche Gewalt, die er seinen Kindern, anderen Menschen und ihr, seiner Frau, angetan hatte, würde bezahlen müssen.

      Ein Mädchen wie Birgit lieb zu haben, dürfte wohl niemandem schwerfallen, hatte Marlene geglaubt, als sie Jürgen kennenlernte, der so voller Zärtlichkeit war. Ungewöhnlich schnell hatte sie seinem Drängen nachgegeben, und sie hatten geheiratet. Das war vor drei Jahren gewesen.

      Aber ihr innigster Wunsch, Jürgen möge doch nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder richtig lieb gewinnen, sollte wohl vorerst noch nicht in Erfüllung gehen.

      Ihr Mann konnte offenbar auch für Birgit nur wenig Herzenswärme aufbringen, sprach er doch meist nur von oben herab mit ihr. Diesen manchmal sogar zynischen Tonfall nannte er dann »Autorität«. In dem Punkt gingen ihre Meinungen sehr weit auseinander, doch Marlene wagte es nicht, ihm ihre eigenen, anderen Ansichten aufzuzwingen. Sie war schließlich keine Schulmeisterin, und Jürgen war kein grüner Junge, wenn er auch fast fünf Jahre jünger war als sie. Sie mochte einen erwachsenen Menschen nicht umerziehen, sie wollte ihren Mann einfach so lieben, wie er war, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Außerdem passte es einfach nicht zu ihr, bei Problemen die Flinte gleich ins Korn zu werfen.

      Von draußen drang jetzt Vogelgezwitscher ins Zimmer. Es war unverkennbar Frühling geworden!

      Ihre Bettnachbarin schwieg wieder. Auf Jürgens knapp hingeworfenes »Wiedersehen« hatte sie allerdings etwas Undefinierbares gemurmelt.

      Marlene war ihr Schweigen ganz recht, konnte sie doch so ungestört weiter ihren Gedanken nachhängen.

      Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Kinder. Niemand brauchte sie dringender. Um ihretwillen musste sie wieder auf die Beine kommen. Darauf wollte sie jetzt ihre ganze Kraft richten. Alles andere würde sich dann schon finden …

      8. Marlenes schöner Mann

      Jürgen. Er sah gut aus, war intelligent und zärtlich, wie es Marlene bisher noch nie erlebt hatte. Schon gar nicht bei ihrem ersten Mann.

      Sie brauchte Jürgen. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Aber ob er sie auch brauchte? Das wusste sie nicht so genau, auch wenn sie es sich sehr wünschte.

      Hatte sie nicht schon längst bemerkt, dass sie nicht die Einzige war, die ihn sehr attraktiv fand?

      Er war groß und schlank, sein voller Mund und die rauchgrauen Augen ließen unschwer erkennen, dass er vor allem die Liebe liebte. Oder sollte sie besser sagen: das Lieben? Warum also sollte sie sich um ihn sorgen?

      Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass (sollte das mit ihr hier schlecht ausgehen) er schnell bei einer anderen Trost finden würde.

      Bei den Kindern lagen die Dinge anders. Karsten, Birgit und Alex waren auf ihre Mutter angewiesen. Deshalb durfte sie einfach nicht zulassen, dass es mit ihr schlecht ausging.

      Marlene hatte das Gefühl, sich mit ihren Gedanken im Kreis zu drehen. Ihr Kopf schmerzte und wummerte, bis die sanfte Dunkelheit sie wieder einhüllte und dem Dröhnen ein Ende setzte.

      Trotzdem fand sie keinen ruhigen Schlaf. Stechende Schmerzen drohten ihre Glieder zu zerreißen, und schon nach Minuten pulste es auch in ihrem Kopf wie zuvor. Unheimliche, wirre Bilder kamen aus dem Nichts und ließen ihr Herz rasen. So musste sie mit ansehen, wie ihr kleiner Sohn in hohem Bogen durch die Luft flog. Seine Schreie schnürten ihr vor Entsetzen die Kehle zu. Als fast noch unerträglicher empfand sie die Stille, die nach seinem Aufprall an der Uferböschung herrschte.

      Plötzlich tauchte die Schönberg-Oma auf, entriss ihr die kleine Birgit und schwebte mit ihr davon. Ihre Tochter schaute sich nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter um. Marlenes Beine waren einbetoniert, sodass sie den beiden nicht nachlaufen und ihre Tochter zurückholen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte.

      Dann wieder sah sie Karsten seltsam lächeln, während er einen riesigen Berg aus Marmelade hinabrutschte. Die Marmelade verwandelte sich in der nächsten Minute vor ihren Augen in dampfenden braunen Schlamm. Karstens Hände suchten in der übel riechenden Masse vergeblich nach einem Halt. Immer tiefer wurde er in den Schlamm gezogen. Erst, als er ganz und gar zu versinken drohte, schrie er wie ein Ertrinkender nach seiner Mutter. Sie wollte sofort zu ihm laufen, aber sie kam auch jetzt wieder nicht von der Stelle.

      Verzweifelt streckte sie die Arme aus, aber sowohl Karsten als auch Birgit entfernten sich immer weiter von ihr, wurden immer kleiner, bis sie schließlich in einem wabernden Nebel verschwanden. Es war grauenvoll!

      Als Marlene tränenüberströmt und schweißgebadet erwachte, war es draußen vor dem Fenster stockdunkel. Das Krankenzimmer war durch ein kleines Nachtlicht notdürftig erleuchtet.

      Eine Nachtschwester beugte sich über sie, wischte ihr mit einem kühlen Waschlappen den Schweiß von der Stirn und versuchte sie zu beruhigen, die am ganzen Körper zitterte.

      »Schon gut, schon gut, Sie haben nur schlecht geträumt, Frau Altmann«, redete die Schwester auf Marlene ein.

      Doch das Schluchzen wollte nicht aufhören, salzige Tränen rannen ihr über die Wangen.

      So viele Fragen hatte sie, so viel hätte sie gern noch gesagt. Ob sie jemals wieder auf die Beine käme, laufen und sprechen könnte? Sie musste doch ihren Kindern sagen, wie sehr sie sie liebte und vermisste.

      Sie wollte unbedingt auch ihren Mann ermutigen, ihren beiden Großen etwas abzugeben von der Zärtlichkeit, mit der er seinen eigenen Sohn und auch sie, seine Frau (bis jetzt) überschüttete.

      Sogleich fielen ihr auch die Briefe wieder ein, die er ihr bei Alex’ Geburt ins Entbindungsheim geschrieben hatte. Er sei sich bewusst, dass er nun auch drei Kinder habe … Er wolle das Eigene auf keinen Fall bevorzugen. »Wir hatten beide kein liebevolles Elternhaus, unsere Kinder sollen es besser haben als wir.«

      Diesen Satz würde sie nie vergessen, gab er ihr doch immer wieder Halt, wenn seine Taten auch manchmal sehr weit abwichen von jenem einst vielleicht sogar aus ehrlichem Herzen gegebenen Versprechen.

      Wie oft hatte sie sich seit der Geburt von Alex schützend vor die beiden Großen stellen müssen, damit seine völlig unverhofft auftretende Härte sie nicht mitten in die Seele träfe.

      Mit wem würde sie darüber einmal richtig reden können?

      Mit niemandem, jetzt und hier jedenfalls nicht. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt jemals wieder würde sprechen können …

      Eine Spritze vertrieb die quälenden Gedanken und brachte den Schlaf. Marlene sah dankbar und schläfrig blinzelnd der Schwester nach, die leise die Tür hinter sich ins Schloss zog.

      Diesmal blieb sie von grauenvollen Bildern verschont und glitt ohne Angst in eine andere, schmerzlose Welt voller Erbarmen und Stille.

      9. Der Heimat ein Stück näher …

      Marlene schwebte zwischen Schlaf und Wachzustand, zwischen Traum und Wirklichkeit. Doch nichts davon drang in ihr Bewusstsein vor.

      An manchen Tagen wusste sie nicht, wo ihr Bett stand oder in welcher Zeit sie lebte. Lebte? Nun ja, es war wohl eher so ein Dahindämmern … Wie lange dieser Zustand schon andauerte, hätte sie am allerwenigsten zu sagen vermocht.

      Aber eines Tages hörte sie jemanden rufen: »Frau