Monika Kunze

Steh-auf-Frauchen


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zehn Mark aus dem Portemonnaie. Nur er kann sie genommen haben, es ist ja schließlich niemand weiter hier in der Wohnung.«

      Marlene ließ das Blatt auf die Bettdecke sinken. Sie war bestürzt und traurig. Woran lag es nur, dass Karsten sich so auffällig verhielt? Es schien ihr manchmal fast so, als wolle er sich mit Absicht und aller Gewalt selbst das Leben schwer machen. Sie war mit ihm schon bei verschiedenen Ärzten und Kinderpsychologen gewesen. Aber jeder hatte etwas anderes zu den Ursachen für seine Verhaltensstörungen gesagt.

      Die einen sahen den Grund in seiner Geburt, die insgesamt achtundsiebzig Stunden gedauert hatte.

      »Da war wohl das Gehirn doch nicht mehr so richtig mit Sauerstoff versorgt«, klangen ihr noch manchmal die Worte eines älteren Arztes nach.

      Die anderen führten sein affektbesetztes Verhalten auf eine zu harte Erziehung zurück, wieder andere auf einen genetischen Defekt.

      Es war schon richtig, dass Karsten sich genauso wie Marlene achtundsiebzig Stunden bei der Entbindung gequält hatte. Und das mit der Erziehung? Da war bestimmt auch eine Menge dran, wenn auch Marlene die Härte seines leiblichen Vaters durch sicherlich allzu große Nachgiebigkeit wieder auszugleichen versucht hatte. Und was war mit dem sogenannten genetischen Defekt? Marlene hatte ihren ersten Mann schließlich nicht nur einmal gewalttätig erlebt.

      »Pass auf den Kleinen auf«, hatte die Großmutter seinerzeit gewarnt. »Geh mit dem Jungen weg – solange du noch kannst. Mit diesem Mann stimmt etwas nicht!«

      Das war natürlich auch Marlene längst klar gewesen. Aber sie war geblieben. Erniedrigt, beleidigt, gehorsam. Jahrelang. Darin sah sie ihre Hauptschuld. Niemals hätte sie die Trennung sieben Jahre lang hinausschieben dürfen … Sie hätte mit ihrem Jungen weggehen müssen. Damals schon …

      *

      Weihnachten. Sie waren gemeinsam mit dem Zug an die Ostsee gefahren, eine scheinbar glückliche Familie – Rolf, Marlene und der kleine Karsten. Sie wollten die Feiertage und den Jahreswechsel bei Rolfs Mutter verbringen, die in einem beschaulichen Fischerdorf wohnte. Früher hatte sie dort mit ihren vier Kindern gelebt, drei Mädchen und Rolf. Ihr Mann Karl, ein Maurerpolier, hatte sie mit ihrem vierblättrigen Kleeblatt sitzen gelassen, war in den Westen abgehauen, wie die kleine, temperamentvolle Schwiegermutter Walburga immer wieder gern zum Besten gab. Jetzt hatte sie ihr Haus ganz für sich allein.

      Marlene hatte diesen Schwiegervater niemals kennengelernt. Aber nach den Reden der Schwiegermutter musste er ein schöner, hochgewachsener Mann gewesen sein, der gern ein Gläschen trank – und noch eins und noch eins, bis er sich schließlich selbst nicht mehr kannte.

      Wie Walburga ihr einmal im Vertrauen gestanden hatte, war es nach solchen Trinkgelagen auf dem Bau (Du weißt ja, ein Stein, ein Kalk, zwei Bier!) zu Hause häufig und immer wieder zu Tätlichkeiten gekommen. Einmal habe er ihr sogar das Nasenbein zertrümmert, hatte sie Marlene so kleinlaut gestanden, als sei sie die Täterin und nicht das Opfer gewesen.

      Ihre Nase war tatsächlich etwas schief zusammengewachsen. Sie hatte sich damals nicht getraut, zum Arzt zu gehen, weil sie dessen unangenehme Fragen fürchtete. Die Angelegenheit war so schon peinlich genug. Den Nachbarn hatte sie kichernd weisgemacht, dass sie nicht richtig über den Onkel laufen konnte und zur Strafe die Treppe hinunter gefallen sei.

      Aber die Nachbarn hatten nur genickt, schwankend zwischen Mitleid und Wut. Sie kannten die Wahrheit natürlich längst, denn so dick sind die Wände in den Häusern aus den dreißiger Jahren ja auch wieder nicht.

      So kam es, dass weder die Nachbarn noch Walburga böse waren, als der Maurerpolier eines Tages verschwunden war. Nein, nicht wie die Male zuvor, für ein paar Tage, nachdem er angekündigt hatte, nur mal schnell Zigaretten holen zu wollen. Dieses Mal war er überhaupt nicht mehr aufgetaucht. Niemand schien den Mann zu vermissen. Wer weiß, wie viele Demütigungen und Schläge Walburga somit erspart geblieben waren. Trotzdem war sie eine fröhliche Frau geblieben.

      Dass ihr Sohn Rolf, Marlenes erster Mann, nicht nur äußerlich das Ebenbild seines Vaters abgab, wollte sie als Mutter nicht wahrhaben. Rolf war groß, schlank und sportlich. Sein Foto im Schaufenster eines Fotografen zog vor allem junge Mädchen in ihren Bann. Sein Grübchen mitten im Kinn, sein tiefes, manchmal jungenhaftes Lachen und sein norddeutscher Dialekt hatten auch die damals siebzehnjährige Marlene begeistert. Sie konnte ihm gar nicht oft genug zuhören, suchte seine Nähe, so oft es sich einrichten ließ.

      Sie hatten sich in einem Internat kennengelernt, das sowohl Oberschüler als auch Lehrlinge beherbergte. Es dauerte gar nicht lange, bis auch Rolf immer mehr Interesse an der jungen Marlene bekundete.

      Die Mädels im Internat bedachten sie, die die eher unscheinbar war, mit scheelen Blicken, denn sie beneideten sie um Rolf.

      Wer Rolf und Marlene zusammen sah, glaubte zu verstehen, was es mit der Liebe auf den ersten Blick auf sich hat. Die beiden marschierten Händchen haltend über den Hof, küssten sich an jeder Ecke und machten sich nichts aus den Blicken der anderen. Sie waren ganz und gar eins, kein Blatt Papier passte zwischen sie. Trennungen versuchten sie zu vermeiden, und wenn es doch einmal sein musste, dann glaubten sie, es ohne einander nicht auszuhalten, suchten und fanden sich überall.

      Sie war damals in der zwölften Klasse. Er lernte Schweißer.

      Sie war von zu Hause ausgerückt, weil ihr fünfter Pflegevater ihr zeigen wollte, wie sie ihre Pubertätspickel wegbekommen könnte.

      »Musst halt nur a bisserl nett zu mir sein«, hatte Franz mit seinem Wiener Charme (er war tatsächlich in der österreichischen Hauptstadt geboren) seine Stieftochter zu überzeugen versucht.

      Doch Marlene, damals süße sechzehn, hatte seine Absichten durchschaut. Was tun? Binnen weniger Minuten stand ihr Entschluss fest.

      »Geh mal schon vor«, sagte Marlene mit sanfter Stimme, »ich will mich nur noch ein bisschen frisch machen.« Kaum hatte sie ausgesprochen, wandte sie sich schon in Richtung Bad.

      Franz sah ihr nach, rieb sich die Augen, trollte sich schließlich, erstaunt und hocherfreut über ihre offensichtliche Bereitwilligkeit, ins Schlafzimmer.

      Doch seine Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Kaum hatte er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen, da schlich sie heran und drehte den Schlüssel herum. Marlenes Herzschlag raste. Die Angst ließ sie erzittern.

      Ihr Stiefvater tobte und fluchte, schlug mit den Fäusten gegen die Tür.

      Sie musste sich beeilen, wenn sie hier heil herauskommen wollte. Ohne groß nachzudenken, warf sie ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, schnappte sich ihre Schultasche und rannte die Treppe hinunter.

      Nur weg, nur weg, nur weg, schien jeder Schritt und jeder Sprung über mehrere Stufen zu hämmern.

      Fürs Erste hatte sie Unterschlupf bei der Großtante eines guten Freundes gefunden. Bald darauf war Marlene zum Jugendamt gegangen, hatte dort die Sache erklärt und um Unterkunft in einem Internat gebeten. Einerseits wollte sie der alten Frau nicht weiter zur Last fallen und andererseits nun, da sie schon bis zur 11. Klasse gekommen war, auch unbedingt das Abitur noch schaffen. Zu der Senftenberger Oberschule gehörte aber kein Wohnheim, also hatte die Mitarbeiterin im Jugendamt ihr vorgeschlagen, die Oberschule in Lauchhammer zu vollenden, dort gab es ein Schulinternat. Sie wolle das klären. Doch in jenem Wohnheim war kein Platz mehr für Marlene, daher nahm sie dankbar den Vorschlag an, im Internat der Kokerei und Brikettfabrik zu wohnen.

      Dort war ihr dann Rolf über den Weg gelaufen. Und Marlene begann, an ihr gutes Schicksal zu glauben. Beide klammerten sich aneinander, als gebe es keine anderen Menschen mehr auf der Welt – vielleicht auch, weil sie glaubten, dass niemand anderer sie liebte.

      Weder seine Mutter Walburga noch ihre Pflegemutter Hilde hatten ihren Sohn beziehungsweise ihre Tochter jemals in ihrer Unterkunft besucht.

      Marlene wusste nicht einmal, wer Franz den Fünften aus seinem Schlafzimmer-Gefängnis befreit – oder wie er seiner Frau erklärt hatte, wie er überhaupt dort hineingeraten war.

      Trotzdem