Frank Bartels

Raniten in der Furt


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hatte. Er ergriff einen brennenden Ast, schwang ihn durch die Luft das die Funkten tanzten und schrie: »Mich fressen? Ich werde es dir zeigen, du Mistvieh.«

      Lilu erhob schützend ihre Hand und sagte: »Lass gut sein, mein Freund.« Dann wandte sie sich dem Wesen zu. »Jetzt verschwinde. Lange werde ich ihn nicht zurückhalten können. Er ist gefährlicher, als er aussieht.«

      Sie gab ihm einen Schubs mit ihrem Fuß, so dass es wieder auf die Beine kam. Aus Angst, doch noch hinterrücks erschlagen zu werden, blickte das Wesen die beiden misstrauisch an. »Oh ja, Feuerkopf; habe nicht gewusst. Kann es nicht riechen. Kann es nicht sehen. Feuerkopf.« Rückwärts kroch es dann aus dem Schein des Feuers und murmelte: »Du lässt mich gehen? Werde gehen, Feuerkopf. Werde woanders essen, ja, woanders essen.«

      Alexander stand noch eine Weile mit erhobenem Ast in den Händen und vergewisserte sich, dass das Wesen endgültig verschwunden war. Ohne den Blick von der Stelle zu nehmen, an der er es vermutete, sagte er: »Was glaubst du? Ist der Riesenkäfer weg?«

      »Du hast dich tapfer geschlagen, mein Freund«, antwortete Lilu, die es sich bereits am Lagerfeuer gemütlich gemacht hatte und noch etwas Brennholz nachlegte. »Aber das war kein Käfer. Das war ein Mirgos. Die gibt es hier überall.«

      »Überall?«, fragte Alexander ungläubig und schaute sich ängstlich um.

      »Es sind Wesen niederer Herkunft. Sie scheuen das Licht und jagen nur des Nachts. Sie rauben junge Vögel aus ihren Nestern oder neugierige Frischlinge. Normalerweise jagen sie im tiefen Wald und kommen nicht so nah an den Weg heran, doch irgendetwas oder irgendjemand scheint ihnen ihr Jagdrevier streitig zu machen.«

      Alexander war immer noch ganz nervös und fragte: »Meinst du, das Ding kommt noch mal wieder?«

      »Es ist schon ungewöhnlich, dass sich diese Kreatur an einen Menschen heranschleicht.« Dann blickte sie Alexander in die Augen und sagte: »Sorge dich nicht, ich werde über dich wachen.«

      »Ja, ja. Das hast du schon mal gesagt und fast wäre ich gefressen worden. Und was meinte dieses Monster mit: »Die Dings werden mich sowieso erwischen? Wer wird mich erwischen?«

       Lilu starrte abwesend in das Feuer und gab keine Antwort.

      ¤

      Die Tage und Nächte vergingen und weder von dem Berg, noch vom Drachen war etwas zu sehen. Je tiefer sie in das Dunkel des Waldes drangen, desto schmaler und beschwerlicher wurde der Weg, der sie zu ihrem zweifelhaften Ziel bringen sollte. Das satte, leuchtende Grün der Bäume wich einem grauen Einerlei und vereinte sich nahtlos mit der Farbe des trüben Himmels. Der Weg wurde zum Pfad und dieser ließ kaum erkennen, ob sie noch der richtigen Richtung folgten oder ob sie sich bereits verlaufen hatten. Außer den abertausenden Insekten kreuzte kein einziges Wesen ihren Weg und sogar das fröhliche Zwitschern der Vögel in den Bäumen war verstummt. Die Luft hing stickig und zäh über dem Boden und nicht das leiseste Lüftchen verhieß Erfrischung.

      Des Morgens brachte tiefer Nebel, so dick wie ein grauer Vorhang, etwas Frische und der anschließende Regen bescherte eine willkommene Abkühlung, doch war der Guss nur von kurzer Dauer und die Tropfen hatte ihre liebe Mühe, das dunkle Blätterdach zu durch­dringen und ihren Weg zum Waldboden zu finden. Dichtes Dornengestrüpp verweigerte ihnen den Weg, zerrte an ihrer Kleidung und hinterließ tiefe, blutende Kratzspuren auf der Haut, als hätten sie in einem Sack mit hundert übermütigen jungen Kätzchen gesteckt.

      Alexander war sich nicht sicher, ob sie nun bereits zwei oder drei Tage unterwegs waren, da die Tage kaum heller als die Nächte waren und der Marsch lediglich durch die spärlichen Mahlzeiten unterbrochen wurde. Die Wanderer sprachen nicht viel und Alexander bemerkte, dass seine Begleiterin seit geraumer Zeit nicht mehr die wilden Blumen am Wegesrand beachtete oder gar mit diesen sprach. Als sie sich aufgemacht hatten, war das Mädchen bei vielen Blumen stehen geblieben oder hatte im Vorbeigehen zu ihnen gesprochen, und obwohl er das mehr als albern gefunden hatte, beunruhigte ihn ihr neuerliches Verhalten. Es hatte so eine gewisse Leichtigkeit in der Art und Weise, im Wesen des Mädchens gelegen, die alle Furcht und Bedenken im Ansatz hatte verfliegen lassen, doch nun schien Lilu nachdenklich oder gar verunsichert und das war kein gutes Zeichen.

      Sie ging voraus, verlangsamte ihren Schritt und berührte mit ihrer Hand die Bäume. Ihre Handinnenfläche strich dabei langsam im Vorbeigehen über die groben Baumrinden und dabei murmelte sie leise vor sich hin.

      Neugierig geworden und um sich von seinem Hunger abzulenken, fragte Alexander: »Warum machst du das?«

      Ohne ihm ihren Blick zuzuwenden antwortete Lilu: »So ertaste ich unseren Weg. Ich fürchte, wir finden sonst nicht mehr aus dem Dickicht auf den rechten Pfad.«

      Alexander erkannte nichts in ihren Händen, womit sie die Bäume hätte markieren können, also hakte er nach: »Mit deiner Hand?«

      »Ja, lieber Alexander, ich spüre. Jeder Baum ist anders. Jeder hat seine typische Rinde, seinen eigenen Duft und seine Geschichte. Was man sieht, ist eine Sache, aber wenn man sicher gehen will, muss man sehen und hören, fühlen, riechen und schmecken«, antwortete Lilu und nach einer kurzen Gedankenpause fuhr sie fort: »Stell dir vor, du hast Hunger und siehst ein leckeres Brötchen – du würdest dieses essen, nicht wahr?«

      »Na klar, und ob«, antwortete der Junge und spürte, dass ihm allein bei diesen Worten, bei dem Gedanken an ein herzhaftes Brötchen das Wasser im Munde zusammenlief.

      »Nun stell dir vor, dieses Brötchen wäre knüppelhart. Würdest du es dennoch essen? Was wäre, wenn es nach Verwesung riechen würde oder du quiekende Laute aus dem Inneren des Brötchens hören würdest? Würdest du es trotzdem essen?«

      Alexander verzog seine Miene und antwortete: »Iiih, natürlich nicht.« Und der Gedanke an ein verwestes, quiekendes Brötchen verdarb ihm den Appetit.

      »Na also. Deine Augen haben dir ein leckeres Brötchen gezeigt, aber deine Nase und deine Ohren haben dich gewarnt, dieses lieber nicht zu probieren. Es hat einen Grund, warum deine Nase direkt über deinem Mund liegt.«

      Diese Erklärung schien einleuchtend. »Aha, du fühlst und siehst die Bäume und dann kennst du den Weg«, bestätigte Alexander.

      »Nein, Dummi. Nicht den Weg aber den Rückweg – falls es nötig sein sollte.«

      Alexander entnahm ihren Worten, dass sie sich bereits verlaufen hatten oder sie sich des Weges zumindest nicht ganz sicher war. Von Haus aus eher praktisch veranlagt fragte er: »Hast du denn keine Karte?«

      »Wie bitte?«

      »Na, eine Landkarte?«, ergänzte er.

      »Was ist das – eine Landkarte?«

      Alexander war sich nicht sicher, ob diese Frage ernst gemeint war, oder ob sie sich über ihn lustig machen wollte, trotzdem erklärte er: »Na, das ist sozusagen ein Bild oder eine Zeichnung der Gegend von oben, also wie ein Vogel sie sieht.« Er war mit seiner Beschreibung mehr als zufrieden, doch Lilu erwiderte nur: »So ein Unsinn. Vögel malen doch keine Bilder.«

      Ungeachtet ihrer Äußerung fuhr er fort: »Man legt die Karte zum Bei­spiel so hin.« Er breitete seine Arme aus und versuchte mit wilden Gesten seine Ausführungen verständlicher zu machen. »Und dann erkennt man, wo man lang muss. Also, wenn man weiß, wo man hin will.«

      »Mit einem Bild?«, fragte Lilu, die anscheinend nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon er sprach.

      »Ja, und besser geht das mit einem Kompass«, ergänzte Alexander. »Das ist so ein Ding, das so ähnlich aussieht wie eine Uhr, aber nur mit einem Zeiger, der immer nach Norden zeigt. Und damit weiß man immer, wo Norden ist.«

      Lilu blieb stehen und schaute ihn fragend an. »Was ist denn eine … Uhr?«

      »Ich geb‘s auf«, murmelte der Junge verzweifelt und trottete langsam weiter. Lilu hielt noch einen Moment inne und rief ihm trotzig hinterher: »Und außerdem weiß ich auch so, wo Norden ist.«

      Sie marschierten weiter und weiter. So lange, bis Alexander