Frank Bartels

Raniten in der Furt


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»Ich kann mir schon denken, was du sagen willst.«

      »Sie fressen Frösche und Schnecken und so, doch einmal im Jahr rauben sie ein Baby; für ihre Jungen. Wir müssen es unbedingt retten.«

      »Für ihre Jungen? Ich habe doch gesagt, dass ich das nicht hören will. Das ist ja widerlich.«

      Lilu nickte wortlos, ohne ihren Blick von dem Horst abzuwenden. Auch Alexander starrte in die Höhe und fragte: »Und, wie wollen wir da hochkommen? Das schaffen wir doch nie.«

      Lilu überlegte kurz und antwortete: »Das schaffe ich schon. Aber wir müssen sie herunterlocken. Ich habe da auch schon eine Idee. Hast du noch von den verbotenen Kügelchen?« Der Junge griff in seine Tasche und nickte. »Ich werde mich dort im Farn verstecken und im rechten Augenblick das Baby schnappen, während du sie ablenken und mit deinem Knüppel in die Flucht schlagen wirst. Doch lass dir gesagt sein: Kampflos werden sie nicht davon ziehen.«

      Er packte entschlossen seinen Knüppel und sagte zu sich: »Das ist sicherlich wieder eine Prüfung; ganz bestimmt.« Mit dieser Waffe in seinen Händen fühlte er sich sehr stark. Ein Schwert wäre natürlich besser gewesen, doch dieser Knüppel würde es vorerst auch tun. Und vielleicht würde er tatsächlich noch ein echtes Schwert in seine Hände bekommen. Er war so aufgeregt, dass er nicht einmal wagte Luft zu holen. Um möglichst leise zu sein, hatte er so lange den Atem angehalten, dass ihm bereits schwindelig wurde und dann, wie sollte es anders sein, entwich ihm ein lauter Furz.

      »Ssscht – du wirst uns noch verraten«, mahnte Lilu. »Wenn sie uns entdecken, fliegen sie mit dem Kind davon und nur Gott weiß, wo sie landen werden.«

      »Wieso sie? Sind da noch mehr?«

      »Ja, irgendwo muss das Männchen noch sein. Also gib Acht.«

      Alexander überlegte, wie man eigentlich einen Storchenmann nennen würde. Wenn man eine männliche Ente Erpel und eine männliche Gans Ganter nennt, müsste ein männlicher Storch doch auch irgendwie heißen. Dann erblickte er das Tier, das am Fuße des Baumes stand und mit seinem langen Schnabel auf etwas einpickte, was zu seinen Füßen lag. Obwohl er rabenschwarz war, hatte dieser Vogel durchaus Ähnlichkeit mit einem Storch, wie Alexander ihn aus Büchern kannte. Er hatte ungefähr die gleiche Größe und einen langen, grauen Schnabel, schien aber wesentlich kräftiger. Seine dicken, fleischigen Beine verliehen ihm fast etwas Menschliches. Doch dann bemerkte Alexander etwas Unglaubliches.

      »Hat der etwa meine Turnschuhe?«, wunderte er sich. Es war schon ein absonderliches Bild: Da stand ein riesiges, schwarzes Federvieh und versuchte verzweifelt den Schuh an seine Krallen zu bekommen. In den rechten war er bereits hineingeschlüpft und kämpfte nun mit dem linken.

      Wie abgesprochen bezog Alexander Stellung, während Lilu lautlos in Richtung ihres Versteckes schlich. Um die Vögel abzulenken, griff er in seine Jackentasche, nahm ein paar der Pupskugeln und warf diese vorsichtig, eine nach der anderen, in Richtung des Vogels. Vater Storch schien vorerst etwas misstrauisch zu sein, ließ sich jedoch von dem verlockendem Duft verführen und folgte der Spur, die der Junge gelegt hatte. Eine Kugel nach der anderen wurde aufgepickt.

      Von dem Gepicke und Geklapper seines Schnabels wurde auch Mutter Storch angelockt, die sich ihrerseits einen Anteil des Futters sichern wollte. Sie glitt mit weit ausgebreiteten Flügeln von dem hohen Nest herunter, um ihrem Gatten die Mahlzeit streitig zu machen. Beide Vögel präsentierten sich Alexander also wie geplant auf dem Silbertablett. Alexander hielt seinen Knüppel mit beiden Händen so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Er nahm all seinen Mut zusammen, sprang mit einem Satz aus seinem Versteck und holte zum vernichtenden Schlag aus.

      ›Paff‹

      Gleich der erste Hieb traf Meister Adebar mit voller Wucht am Schädel. Der Storch schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an, bis er zuckend umfiel wie ein nasser Sack. Und dort blieb er auch liegen und rührte sich nicht mehr. Mutter Storch war etwas fixer und schien den Ernst der Lage sofort begriffen zu haben. Mit etwas Anlauf und kräftigen Flügelschlägen floh sie in die Sicherheit der Baumkronen.

      In der Zwischenzeit hatte Lilu das Nest erreicht, in dem das hilflose Kindchen lag. Behutsam nahm sie es an sich und wickelte es vorsichtig in ihr Bündel. Der Boden des Horstes zeugte davon, dass dieses arme Wesen nicht das Erste gewesen sein konnte, das die Störche ihren unglücklichen Müttern entführt hatten. Dann stieg sie vorsichtig herab und rief erleichtert: »Ich habe es und es scheint wohlauf zu sein.«

      Alexander wachte mit geschultertem Knüppel am Fuße des Baumes und fühlte sich gut, sehr gut, obwohl er gerade einen Vogel erschlagen hatte und er dachte, dass ein Ritter sich so ähnlich fühlen müsste, nachdem er einen Drachen erschlagen und die Prinzessin befreit hatte. Na ja, so ähnlich vielleicht.

      ¤

      »Komm, lass uns von diesem scheußlichen Ort verschwinden«, sagte Lilu, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ale­xander war es nur Recht.

      Sie sah ihn an und lächelte. »Schau, es ist ein tapferes, kleines Mädchen.« Dann zog sie das Tuch ein Stück zur Seite und ein unschuldiges Antlitz lächelte den Jungen an.

      Es schien etwas kleiner zu sein, als er es vermutet hatte. Sein Gesicht trug fast strenge Züge, die von einem entbehrungsreichen Leben zu zeugen schienen. Ihm fehlte jegliche unschuldige Reinheit, wie man es von einem so zarten Wesen erwarten würde. Auf seinem Kopf wuchs bereits dichtes, ebenschwarzes Haar und die grünen Augen blitzten hellwach. So hatte Alexander sich ein Baby nicht vor­gestellt - aber was wusste ein Zwölfjähriger schon von solchen Dingen!

      Lilu blickte das Baby an und sagte mit sanfter Stimme: »Piep, piep, wen haben wir da? Wir werden dich in Sicherheit bringen. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Alexander hat die bösen Vögel verjagt.«

      »Schätze, ich habe sie bestanden«, sagte Alexander zuversichtlich. »Das war doch die zweite Prüfung, oder? War leichter, als ich dachte. Ein Schlag und zack bum – das war’s. Ich bin mal gespannt, was noch auf mich wartet.« Dann hielt er inne. »Äh, Lilu, warte mal kurz. Ich bin gleich wieder da.«

      Einen Moment später kam er mit seinen Turnschuhen in den Händen zurück.

      »Ah, deine Schuhe«, bemerkte Lilu.

      »Der Storch hatte sie. Er hatte sogar einen an.«

      »Das heißt, du hast Meister Adebar voll erwischt.«

      »Ja.«

      »Und was ist mit Mutter Storch?«

      »Die ist abgehauen, aber sie hat viele Kügelchen gefressen …«

       Bauer Ewald

      Endlich ließen die drei den Wald hinter sich und vor ihnen breitete sich eine grüne, hügelige Landschaft aus. In der Ferne konnten sie bereits die schemenhaften Umrisse der Berge erkennen und ihnen wurde bewusst, dass ihre Reise gerade erst begonnen hatte.

      Kniehohe Heidekräuter mit weißen und lilafarbenen Blüten bewuchsen den sandigen Boden und kleine, kugelrunde Büsche raschelten leise im Wind. Diese Gegend schien freundlicher und die Wanderer gewannen neuen Mut. Nachdem sie eine Weile gegangen waren und einen der größeren Hügel passiert hatten, lag ein sanft abfallendes Tal mit beackerten Feldern vor ihnen, dessen Grenzen von einer Mauer aus kindskopfgroßen Feldsteinen umrahmt waren. Der Tag begann zu dämmern als sie das Feld erreichten.

      »Wir sollten diesem Feld folgen. So werden wir zu den Bauern gelangen«, schlug Lilu vor und kletterte über die Steinmauer.

      Alexander folgte ihr und fragte: »Warum machen die Leute so etwas?«

      »Was denn?«

      »Na, so eine unsinnige Mauer bauen. Ich meine, da kann doch jedes Kind rüber klettern.«

      »Stimmt, aber es ging hierbei nicht um die Mauer, sondern um die Steine«, erklärte Lilu, doch Alexander verstand nicht. »Wie, die Steine?«

      »Die Steine lagen früher im Boden und immer, wenn der Bauer mit dem Pflug gegen