Frank Bartels

Raniten in der Furt


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wahrscheinlich hat irgendeiner die Steine aufeinander gestapelt, und zack, entstand die erste Mauer.«

      Alexanders Blick fuhr die Steinmauer entlang und er schlussfolgerte: »Schätze, das war wohl nicht die beste Idee, gerade hier ein Feld anzulegen.«

      Das Getreide stand hoch und so mussten sie ihren Weg durch das Feld bahnen. Da der Junge ein deutliches Stück größer war und Lilu immer noch das Baby trug, schritt er voraus und ebnete den Weg. Plötzlich stand er vor einer riesigen Gestalt und erschrak. Augenblicklich erhob er seinen Knüppel, um den Fremden abzuwehren, doch Lilu rief: »Halt ein! Das ist doch nur eine Vogelscheuche.« Er spürte den Schrecken noch in seinen Gliedern und fragte: »Eine Vogelscheuche? Bist du dir sicher? So eine gruselige Vogelscheuche habe ich ja noch nie gesehen. Wer denkt sich denn so etwas aus?«

      Fest und fleischig hing diese Figur an ihrem Pfahl. Nirgends war Stroh zu erkennen und es schien so, als sollte sie nicht nur die gefräßigen Vögel fernhalten, denn sie sah aus wie ein gekreuzigter Mann, der der Verwesung nahe ist. Alexander beschlich ein ungutes Gefühl und in dem Moment, als sie an der Vogelscheuche vorüber gingen, lief ihm ein kalter Schauer den Rücken herunter. Er hätte schwören können, dass sie sie mit lauerndem Blick aus ihren dunklen, leeren Augenhöhlen verfolgt hatte.

      Am Ende des Feldes trafen sie auf einen schmalen Sandweg, der tiefe Huf- und Wagenspuren erkennen ließ.

      »Rechts oder links?«, fragte Alexander. Lilu besah sich die Spuren und entschied: »Wir müssen da lang«, und zeigte nach rechts. Wenig später erreichten sie einen verwitterten Holzzaun. Eine schmale Pforte gewährte ihnen Einlass auf einen Hof. Als Lilu die quietschende Pforte öffnete, setze ein lautes, tiefes Bellen ein. Alexander zuckte zusammen, denn dem Ton nach musste es ein großer Hund sein, dem ihr Kommen nicht verborgen geblieben war. Ängstlich fragte er: »Bist du sicher, dass die Leute freundlich sind?« Wo er doch vor Hunden schon immer Angst gehabt hatte.

      »Es sind einfache Leute. Sie werden uns willkommen heißen. Doch überlasse mir die Ansprache – das Landvolk ist misstrauisch.« Das hätte sie gar nicht zu erwähnen brauchen. Alexander hätte sowieso nicht gewusst, wie er Fremden ihr Erscheinen hätte erklären sollen.

      Vor dem Haus saß die Bäuerin auf einem Schemel und rupfte einem Huhn die Federn, das scheinbar vor nicht allzu langer Zeit noch über den Hof gehuscht war. Den vielen anderen Hühnern schien das Schicksal des Verwandten einerlei. Die Frau war klein und kräftig, nicht mehr die Jüngste und ihre rötlichen Wangen zeugten vom Landleben. Sie trug eine grobe Schürze über ihrem braunen Kleid und ein Kopftuch bedeckte ihr ergrautes Haar. Nachdem die Bäuerin die Fremden erblickt hatte, erhob sie sich und rief: »Na, wen haben wir denn da?« Ihre Stimme klang verhalten aber freundlich.

      Einige Schritte hinter ihr stand der Bauer, der deutlich weniger erfreut zu sein schien. In der Rechten hielt er die Kette, an der ein riesiger, schwarzer Hofhund zerrte und mit der Linken umklammerte er den schweren Stiel seiner Forke, immer bereit, unangemeldete Besucher vom Hof zu jagen. Der Mann war nicht wesentlich größer als sein Weib, doch von sehr kräftiger Statur und annähernd halslos.

      Lilu ging unverdrossen näher, deutete eine Verbeugung an und sagte freundlich: »Seid gegrüßt. Drei müde Wanderer bitten um Eure Gastfreundschaft, liebe Bauern.« Die Frau hielt das gerupfte Huhn in beiden Händen und bewegte sich vorsichtig auf sie zu.

      »Wo ist der Dritte? Er soll sich zeigen, oder habt Ihr etwas zu verbergen?«, hörte man den Bauern rufen. Seine Stimme klang weniger freundlich als energisch und entschlossen. Die Frau blieb wenige Schritte vor den Besuchern stehen und Lilu schob das Tuch ein wenig zur Seite, sodass die Bäuerin das schlafende Baby erblickten konnte.

      Ein Moment des Schweigens verging, in dem sie sich die Frage zu stellen schien, wie das ungleiche Paar wohl zu einem Baby gekommen sei. Lilu schaute ihr in die Augen und erklärte mit ruhiger Stimme: »Wir haben es einem Storchenpaar entrissen. Im Wald nicht weit von hier.« Die Bäuerin schien erleichtert, drehte sich zu ihrem Gatten und rief: »Es ist ein Baby, Ewald.« Der Bauer schien dem Urteil seiner Gattin zu trauen. Er kam ebenfalls näher und brummte nun etwas freundlicher: »Entschuldigt unser Misstrauen, man kann in diesen Zeiten nicht vorsichtig genug sein. In letzter Zeit treibt sich eine Menge Gesindel in unserer Gegend herum.«

      So standen sich die Bauern und die Reisenden gegenüber und keiner getraute sich etwas zu sagen. Scheinbar wollte Lilu den Bauern die Zeit lassen, über den unerwarteten Besuch sinnen zu können. Endlich ergriff die Frau das Wort: »Kommt herein und seid unsere Gäste. Das Essen ist bald fertig. Ihr müsst hungrig sein. Es gibt Gebratenes und frisches Gemüse.«

      Das Bauernhaus war mit Reet gedeckt, das Dach reichte nahe an den Boden heran und aus dem Schornstein stieg Rauch in Wolken empor. Die Fenster waren klein gehalten, hatten Sprossen und hölzerne Fensterläden. Unterhalb der Fenster waren Wacholder- und Dornenzweige angebracht, wie man es in ländlichen Gegenden häufig sah. Manche behaupteten, es wäre eine einfache, aber wirkungsvolle Methode, um Tiere auszusperren, die durch die offenen Fernster stiegen und nach Fressbarem suchten. Andere waren der Meinung, dies sei eine List, um die bösen Geister fernzuhalten.

      Im Inneren des Häuschens roch es, als müsste dringend gelüftet werden und das offene Feuer des Kamins trug ein Übriges dazu bei. Die freundliche Bäuerin ging voraus und führte die Freunde in die Stube: »Tretet ein und setzt Euch. Fühlt Euch wie zu Hause.« Lilu stand etwas verlegen mit dem Kindchen im Bündel auf der Schwelle. »Habt Ihr einen Platz, an dem sie sich ausruhen kann? Die Anstrengungen der letzten Stunden haben sie etwas mitgenommen.«

      Die Bäuerin nahm ihr das Kindchen vorsichtig ab und legte es in einen Weidenkorb, den sie vorher mit Kissen und Decken ausgelegt hatte.

      ¤

      Und endlich gab es zu essen - und zwar reichlich. Obwohl Alexander noch nicht vollständig genesen war, aß und schmatzte er mit Bauer Ewald um die Wette. Gebratenes Fleisch, Kartoffeln, Karotten und Kohlrabi verschlang er, als ob es am morgigen Tage nichts mehr geben würde und obwohl die Bohnen köstlich dufteten, verzichtete er lieber. Alle ließen es sich schmecken und sprachen nur das Nötigste.

      Dann erhob sich die Bäuerin. »Ich werde mich erst einmal um das Kindchen kümmern. Das muss ja völlig ausgehungert sein.« Bauer Ewald setzte sich auf den Schaukelstuhl, der vor dem brennenden Kamin stand, lehnte sich zurück und sagte: »Keine Sorge. Sechs Kinder hat das Weib groß gekriegt und ich kann mit Stolz sagen: Alles prachtvolle Burschen.«

      Er fischte eine Holzpfeife aus seiner Weste, stopfte und entzündete diese. »Sind alle in die Fremde gegangen, um ihr Glück zu suchen.« Wehmütig zog er an seiner Pfeife. »Wenn Ihr gesättigt seid, setzt Euch zu mir und erzählt Eure Geschichte. Welche Geschäfte, wenn ich fragen darf, führen Euch in diese Gegend?«

      Lilu und Alexander setzten sich auf eine Fußbank vor das Kaminfeuer und Lilu antwortete: »Wir danken Euch für Eure selbstlose Gastfreundschaft aber das, mein lieber Bauer, soll nicht Eure Sache sein.«

      Alexander war für einen Moment über ihre Antwort erstaunt. Bauer Ewald jedoch schaute nur nachdenklich in die Flammen des Kamins. »Wenn Ihr nicht möchtet, braucht Ihr nichts zu sagen.« Er hielt einen Moment inne, gab seinem Schaukelstuhl neuen Schwung und dann fuhr er fort: »Wie ich schon sagte: In letzter Zeit treibt sich hier des Nachts lichtscheues Gesindel herum. Fast jede Nacht schlägt Bero an und trotzdem verschwinden meine Hühner.«

      »Hühnerdiebe?«, wunderte sich Lilu.

      »Ja, auch zwei meiner besten Rinder wurden gerissen und wenn nicht bald was passiert, werden wir wohl demnächst Steine essen müssen.«

      »Dann guten Appetit«, lachte Alexander.

      Der Mann fand das weniger komisch und brummte: »Na, sieh einer an, Euer Bruder kann ja doch sprechen.«

      »Sie ist nicht meine Schwester«, versuchte Alexander hastig richtig zu stellen. »Sie ist meine … Freundin.«

      Der Bauer schaute ihn fragend von der Seite an.

      »Also, nicht meine Freundin«, stotterte der Junge. »Eher ein Freund. Ein Mädchen als Freund, verstehen Sie?«

      Doch