Lilian Morgenroth

Aus dem Leben der Leana O.


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ihn nur wie einen zeitlosen Taumel. Mal hier mal da. Mal den, mal dort. Manchmal versuche ich zu lachen. Dazu ziehe ich einfach meine Mundwinkel hoch und gebe einem Lachen ähnliches Geräusch von mir. Klappt ganz hervorragend. Die sind doch alle dumpf. Genau wie ich. Das Bier…mehr davon. Ganz wunderbar.

      Die Abendsweggehspaßkultur ist ähnlich einem taumelhaften Rausche. Der Sinn scheint darin zu bestehen, sich bei im idealfall guter Musik zu betäuben, um dann einer Person anderen Geschlechts möglichst nahe zu kommen. Küssen erwünscht. Gelingt dies, ist des Hedonistens Glück erzielt.

      Der andere Aspekt beim Weggehen ist die Musik. Vor allem die elektronische. Sie packt mich so bedingungslos, dass ich Angst bekommen kann, bin ich nicht bereit mich hinzugeben. Im ganzen Körper fühle ich den Bass. Im ganzen Raum. Alle Tanzenden schmälzen zu einer Masse zusammen. Die ich fühlen kann. Bum bum bum. Immer mehr noch. Lass es nie aufhören. Weg von allem. Nur ergriffen von der Macht des Basses. Dann der charakteristische Brake des DJs. Der Bass verstummt, die schrillen elektronischen Töne brauen sich zu einem ohrenbetäubenden, kaum aushaltbaren Crescendo zusammen. Alle Johlen. Ich weiß nicht, ob aus Wonne oder Unbehagen. Dann eine Sekunde Pause, ehe der sanfte Bass als Erlöser in einer Intensität wieder einsetzt, dass es mir den Atem verschlägt. Es ist, als packte er mein Herz, riss es sanft aus mir heraus, um es mir sogleich zurückzugeben. Ich muss tief und andächtig einatmen, seufze ein Seufzen, das vom Lärm für immer verschluckt wird und lasse mich mitreißen wie all die anderen Feieranten. Selten fühle ich mich so auf der Erde, wie in diesem Momenten.

      Stolzlippen

      Der Frauen Sexualorgan,

      trägt schon im Namen Sorge an,

      Schamlippen passt als Ausdruck nicht,

      der Genderfreund zeigt bess’re Sicht!

      Drum lasset uns es freudig rufen,

      Stolzlippen! lustvoll und auch laut,

      denn ist hier eines nur versaut,

      dann wenn die Fakten falsch geschaut!

      Geht es doch hierbei nicht um Scham,

      doch Stolz, das kommt schon besser dran.

      Geschlecht, Gegut, dämlich und herrlich,

      sind germanistisch eher spärlich.

      Drum lasset uns es freudig rufen,

      Stolzlippen! lustvoll und auch laut,

      Neologismen nutzt man gern,

      und dieser ist nicht mal versaut.

      Einsamkeit

      Allein.

      Widerstand – denn dieses Gefühl darf nicht sein.

      Und Leere kriecht in mich hinein.

      Fressen, um die Leere zu füllen.

      Um die Gefühle mitnichten zu enthüllen.

      Magenschmerzen, um mich selbst zu spüren,

      zerkratzte Haut, um mich aus dem Jetzt zu entführen.

      Selbstdestruktiv und mörderisch.

      Stunde Null nach dem Erwachen.

      Was habe ich getan – all jene Sachen.

      Scham in der Einsamkeit,

      und die Frage, was mich aus diesem Teufelskreis befreit.

      Vergebung. Von mir, für mich, durch mich.

      Die Entscheidung des Selbst für sich.

      Allein.

      All-Ein.

      Alles Eines.

       Leistungsdruck I

      Es lebe der Leistungszwang!

      Verbitterte Ironie.

      Es geht nicht ums Verdauen, sondern ums Schlucken. Der unmittelbare Würgreiz ist da rein symptomatisch.

      War der Plan nicht einmal, das System von innen zu sprengen? Jetzt frisst es dich von innen auf.

      Langsam, denn du sollst es nicht bemerken. Die Fehlattribution muss gelingen.

      Du sagt, es wird schon werden mit dem guten Leben?

      Ach, fick dich ins Knie, Melancholie!

      Und was ist mit all den betäubten neoliberalen Hedonistenschweinen? - Die schlemmen.

      „Papa, warum haben wir die Erde aufgefressen?“

      „Weils halt so lecker war, Sohn!“

      Aber sei nicht so streng mit ihnen. Shopping als Coping-Strategie ist wahrscheinlich moralisch integer.

      Und ich? Zwischen Panikattacke und Depression, hin und wieder von leiser Zerstörungswut gestreichelt.

      Es lebe der Leistungszwang!

       Sehnsucht nach der Kindheit

      Ich betrachte das Foto. Mich und meine Schwester. Lachend in die Kamera, die Ärmchen um einander geschlungen, Kopf an Kopf. Braungebrannt, strahlend und unbesorgt.

      Ich sehne mich so sehr in das Szenario des Bildes zurück, dass es mich schmerzt.

      Ich zoome unsere Gesichter heran. Sie sind so schön, so unverbraucht – vollkommen heil. Was heißt schon Ästhetik. Nein, es sieht heil aus.

      Lange liegt es zurück. Fünfzehn Jahre, vielleicht mehr. Viel ist passiert seit dem. Unsere Gesichter sind verändert. Habe ich mich verändert oder wurde ich verändert?

      Während ich das Foto ansehe, betrachte ich meine Gegenwart in einem Handspiegel.

      Bin ich es? Die Augen sind dieselben. Nein, nicht einmal das. Die Augen da auf dem Foto sind pur und rein. Jetzt sind sie geschminkt, um die Müdigkeit zu verbergen. Wohl nur die Seele ist die Selbe. Aber sie trägt andere Erlebnisse in sich.

      Mein Gesicht hat sich verändert. Die weichen, reinen Formen sind härteren und unreinen Gesichtszügen gewichen. Vergangen das Gesicht im Kindchenschema, gewichen dem Antlitz einer jungen Frau. Mehr oder weniger schön. Gerade sehe ich Härte. Gewichen der kindlichen Symmetrie eine Physiognomie der Unvollkommenheit.

      Trug ich dieses Gesicht schon immer in mir? Oder nahm es diese Formen an, da ich erlebte? Sähe ich anders aus, hätte ich anders erlebt und gedacht? All die Jahre! Viele kranke Gedanken. Haben sie mein Gesicht geformt?

      So sehr sehne ich mich zurück in das Mädchen, das ich damals war. Der anderen Welt noch nahe. In Gewissheit. Voller Schönheit, voller Glück. Unbesorgt und Frei. In der Geborgenheit.

      Und jetzt? Vermag ich mir selbst du geben, was ich brauche?

      Ich beginne zu weinen. Salzige Tränen. Voller Zorn und einwenig Mitleid mit mir selbst.

      Ich bin noch die Selbe. Nur bin ich nicht mehr gleich. Ich sage es mir und ich finde es trostvoll.

       In der Vorlesung

      Höre Worte.

      Höhere Worte.

      Höre höhere Worte.

      Sie sind laut.

      Phonologisch verstanden, semantisch unverarbeitet.

      Höre die Worte,

      kenne sie, aber kann sie zu keiner Sinneinheit vereinigen.

      Sinnzusammenhang.

      Aber