ich mache den Mund nicht auf. Diesmal bleibe ich eisern, habe ich mir spontan vorgenommen. Verkrampft beiße ich die Zähne zusammen, Mein Kiefer schmerzt.
Unbeweglich sitzt der Mann vor mir. Wie kann man als Zahnklempner überhaupt so viel Geld verdienen? Nur Sadisten werden Zahnärzte, fährt es mir durch den Kopf. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Als ich mich immer noch nicht rühre und ihn mit starren Blick, aber mit geschlossenem Mund anglotze, sagt er freundlich, jedoch bestimmt: „So, nun öffnen Sie den Mund, bitte.“ Er bittet mich sogar!
Als von mir weiterhin keine Reaktion ausgeht, meint er sanft: „Frau Osmani, wenn sie den Mund nicht öffnen, kann ich Ihnen nicht sagen, ob alles in Ordnung ist. Und deswegen sind Sie doch da.“ Jetzt spricht er zu mir wie zu einem kleinen Kind. Die Situation wird immer peinlicher.
Ich sehe ein, dass er am längeren Hebel sitzt, reiße schließlich den Mund groß auf und strecke ihm mein Gebiss entgegen.
Er beginnt der Sprechstundenhilfe zu diktieren. Sie trägt alles fein, säuberlich auf mein Krankenblatt ein. Das nehme ich zumindest an. Er entdeckt so viel und hört nicht auf zu diktieren. Ich wusste gar nicht, dass es so schlecht um meine Zähne bestellt ist. In diesem Augenblick bereue ich, überhaupt hergekommen zu sein. Ich hätte diese Stunde angenehmer verbringen können, daran ändert selbst die schöne Musik nichts, die im Hintergrund spielt.
Das Ende des Diktats bekomme ich nicht mehr mit. Einmal mehr falle ich in Ohnmacht.
Als ich zu mir komme, ist der Stuhl verstellt, der Kopf tief nach unten, die Beine nach oben und Doktor Kersky, der mein Händchen hält und meinen Puls prüft.
„Geht‘s wieder?“, fragt die freundlich, besorgte Stimme des Zahnarztes. Wie oft wurde mir diese Frage schon von einem Dentisten gestellt? In meiner Todesangst hatte ich ganz vergessen Doktor Kersky darauf hinzuweisen, dass ich ab und zu ohnmächtig werde. Na ja, jetzt weiß er es, und außerdem ist es zu spät.
Wenigstens kommt von Doktor Kersky kein Vorwurf oder ein unverschämtes Wort wie vor sechs Monaten bei einem Doktor Mangel. Der meinte mich darauf hinzuweisen zu müssen, dass bei meinen Zähnen verschiedentlich Reparaturarbeiten durchgeführt worden waren. Daraus folgerte er, dass ich daran gewöhnt sein müsste, dass in meinem Mund gearbeitet wird.
Natürlich geht es wieder. Doktor Kersky hat schließlich noch andere Patienten außer mir. Das Blut durchflutet mein Gehirn und es arbeitet jetzt weitgehend normal.
„Können wir weitermachen?“, will der Zahnarzt wissen, „oder ist Ihnen eine Pause lieber? Bisher habe ich nichts entdeckt. Wir entfernen nachher noch den Zahnstein.“ Er hält es jetzt für angebracht, mir Erklärungen zu geben. Danke!
Aber weshalb dann das lange Diktat? Darauf die Frage zu stellen verzichte ich. Das würde den Aufenthalt hier nur in die Länge ziehen und das möchte ich um jeden Preis vermeiden.
Ich schaue ihn fragend an und antworte mit schwacher Stimme: „Sie können weitermachen.“
„Wir sind auch gleich fertig“, verspricht er.
Um möglichst schnell den Ort meiner Scham zu verlassen, reiße ich diesmal sofort den Mund auf.
Doktor Kersky hat mir keine Märchen erzählt. Ziemlich schnell ist das Diktat beendet. Nun folgt die nächste Tortur, den Zahnstein entfernen. Aber ich muss tapfer sein.
Wie schon andere Zahnärzte, unter deren Händen ich gelitten habe, beginnt auch er zu sprechen, während er Zahnstein entfernt, um mich von meinem Übel abzulenken. Der Dialog ist natürlich sehr einseitig. Ich kann nicht antworten. Alle Zahnärzte nützen das schamlos aus und versuchen einem die sieben Wahrheiten über Frauen- und Zahnarztpsychologie zu erklären. Zufrieden und grinsend stellt er schließlich fest, dass dies wohl der einzige Augenblick ist, in dem eine Frau schweigt. Soll ich lachen? Oder was? Am liebsten würde ich ihn mit den Augen töten, aber ich brauche ihn noch bis zum Ende meiner Behandlung.
Dies war mein erster Besuch bei Doktor Kersky, und ich habe gleich eine schlechte Visitenkarte hinterlassen. Für mich ist das Kapitel abgeschlossen. In sechs Monaten oder besser, wenn ich das nächste Mal den Mut aufbringe, suche ich sicher einen anderen Zahnarzt heim.
Noch kennen mich nicht alle Zahnärzte in München und Umgebung. Hier kann ich mich auf keinen Fall mehr blicken lassen. So viel steht jetzt schon fest.
Mittwoch, 14. Oktober
Ich denke, ich sollte mich kurz vorstellen, nachdem meine zweifelhafte Vorliebe für Zahnärzte jetzt bekannt ist.
Mein Name ist Angelika Osmani, geborene Senn. Das Licht der Welt erblickte ich in Immenstadt vor fünfunddreißig Jahren. Gleich nach dem Abitur im neusprachlichen Gymnasium zog es mich aus dem Allgäu fort.
Meine Vorstellungen über den Weg, den ich einschlagen wollte waren unklar und so genehmigte ich mir gegen den Wunsch meiner Eltern ein Jahr der Findung, man könnte es auch Auszeit nennen und ging 1996 nach London.
Ich fand eine Au-pair-Familie und lernte sehr bald meinen zukünftigen Mann, den türkischen Studenten Mustafa Osmani kennen.
Inzwischen konnte ich meine Findung beenden und begann Englisch und Türkisch zu studieren. Ich saß schließlich an der Quelle und hatte einen ausgezeichneten Lehrer in Mustafa.
Zwei Jahre später heirateten Mustafa und ich in London. Eine kleine Feierlichkeit ohne Freunde und Familie.
2006 erhielt Mustafa ein großartiges Stellenangebot in Istanbul. Wir verließen London in Richtung Bosporus-Metropole. Die pulsierende Stadt hatte es uns beiden angetan. Wir fühlten uns dort sehr wohl.
Auch ich wollte mich beschäftigen und schrieb mich an der Universität ein. Wieder studierte ich Türkisch, aber auch Türkische Zivilisation. Nebenbei arbeitete ich als Fremdenführerin.
Der Wunsch nach Kindern wurde uns nicht erfüllt. Mustafa erkrankte an Krebs und überlebte die Krankheit nicht. Im Jahr 2008 starb er. Unseren Traum und die Wünsche für die Zukunft nahm er mit.
Schließlich brach ich 2009 meine Zelte in Istanbul ab und ließ mich in München nieder.
Schnell fasste ich Fuß als Übersetzerin und Dolmetscherin. Ich konnte in kürzester Zeit die Prüfungen zur vereidigten Übersetzerin ablegen und war somit auch bei Gericht und offiziellen Institutionen zugelassen.
So begann mein Leben in München unscheinbar als graue Maus.
*
Mittwochs ist mein Universitätstag.
Ich arbeite freiberuflich als Übersetzerin und Dolmetscherin für Türkisch und Englisch.
Damit mir nicht langweilig wird und ich meine grauen Zellen beschäftigen kann, habe ich eine Vorlesung in Altgriechisch belegt.
Am Gymnasium musste ich Latein lernen. Weshalb soll ich jetzt nicht Altgriechisch in den Sprachreigen aufnehmen? Keiner versteht es wirklich. Nicht einmal ich selbst, aber ich habe meinen Spaß an den Vorlesungen.
*
An diesem Abend habe ich keine Lust nach Hause zu gehen und zu arbeiten und entscheide ich mich fürs Kino. Sofort nehme ich meinen Sitzplatz ein. Der Film beginnt in fünf Minuten. Ich ziehe die Zeitung aus der Tasche. Ich schleppe sie schon seit dem Morgen herum, ohne die Zeit gefunden zu haben, sie durchzublättern, geschweige denn darin zu lesen.
Das Kino füllt sich. Ich bin immer noch beim „Klatsch aus aller Welt“ als mich eine Männerstimme fragt, ob der Platz neben mir noch frei ist. Klar ist der Platz noch frei. Das muss die Stimme doch wissen, schließlich sind die Karten nummeriert. Trotzdem bejahe ich ohne aufzuschauen. Der Mann setzt sich. Schließlich wage ich doch vorsichtig einen Blick zur Seite. Ist es weibliche Neugier? Ich weiß es nicht. Dann durchfährt es mich wie ein Stromschlag.
Nein, diesmal fällst du nicht in Ohnmacht, befehle ich mir sofort. Du willst den Film sehen. Ich hoffe, er erkennt mich nicht wieder. Wie peinlich! Wäre es nicht zu auffällig,