war das noch mit dem Berufsethos? Ärzte sollten ihre Patientinnen nicht anbaggern? Aber wahrscheinlich rechnet er nicht mehr damit, dass ich weiterhin seine Patientin sein will. Schließlich muss er mitbekommen haben, dass ich einen häufigen Wechsel bei Zahnärzten vorweisen kann.
Schließlich sage ich: „Oh, nein, wirklich nicht. Ich war in meine Arbeit vertieft und habe gar nicht bemerkt wie die Zeit vergeht. Eine Pause tut mir gut.“
„Sie arbeiten noch um diese Zeit? Sagen Sie, dann haben Sie noch gar nicht gegessen. Soll ich Sie in einer halben Stunde abholen und wir essen etwas Kleines?“
Das ist so spontan und klingt so ehrlich. Ich bringe nicht den Mut auf, nein zu sagen. Er ist immerhin ein netter Mensch. Zahnarzt zwar, aber trotzdem nett. Wir verabreden uns für zehn Uhr abends. Er wird läuten, wenn er angekommen ist.
Das übliche Problem, das sich mir in einem solchen Augenblick stellt, ist: Was ziehe ich an? Ein Mann würde sagen: typisch Frau. Ich entscheide mich für eine rote Jeans, den schwarzen Rolli und schwarze Schuhe. Verfroren, wie ich seit jeher bin, kann ich mich selten warm genug anziehen. Haare bürsten und fertig bin ich. Zum Glück hatte ich meine Haare heute Nachmittag gewaschen. Gerade fülle ich die nötigen Utensilien in die kleine Handtasche, als es klingelt. Über das Haustelefon erfahre ich, dass Markus unten steht.
„Ich komme sofort.“ Schnell Mantel überziehen, noch einen Blick in den Spiegel, Handtasche und raus. Halt! Wo sind die Schlüssel? Glücklicherweise hatte ich sie heute Morgen nach dem Einkaufen an den für sie vorgesehenen Haken gehängt. Nichts wie raus! Ich hasse es, Leute warten zu lassen. Darin bin ich typisch Deutsch.
Er wartet unten neben der Haustür als ich hinausstürze. Sofort tritt er auf mich zu und drückt mir die Hand. Wie kann man bei dieser Kälte nur so warme Hände haben? Das verstehe ich nicht. Und dann der Händedruck! Das ist mir in der Praxis gar nicht aufgefallen. Auf jeden Fall spürt man, dass man jemandem die Hand gegeben hat. Nicht, dass er einem die Hand zerquetscht. Nein gerade so, dass man den Druck gut spürt.
„Nochmals guten Abend. Freut mich, dass Sie nicht nein gesagt haben. Sollen wir mit dem Auto fahren oder zu Fuß gehen?“ fragt er mich.
„Ganz wie Sie wollen. Wenn Sie einen guten Parkplatz gefunden haben, ist es vielleicht besser zu Fuß zu gehen.“ Ich habe eine Parkplatzmanie. Jedes Mal, wenn ich irgendwo hinfahren muss überlege ich vorab wie wohl die Chancen stehen, dass ich einen Parkplatz bekomme in den ich einparken kann.
Er schaut mich mitleidig an und meint: „Ihnen ist offensichtlich kalt. Wir nehmen das Auto. Dann können wir immer noch überlegen wohin es gehen soll.“
Schon stehen wir bei seinem Wagen, einem Golf. Höflich wie er ist, hält er mir die Beifahrertüre auf. Schon lange her, dass ich so verwöhnt worden bin. Wann war das überhaupt? Er geht vorne um das Auto, öffnet seine Türe und setzt sich neben mich.
Gut sieht er aus. Aber das ist nichts Neues. Wäre ich nicht so nervös gewesen, es hätte mir schon in der Praxis auffallen können. Etwa vierzig, aber das habe ich schon erwähnt. Ungefähr zehn Zentimeter größer als ich und ich bin eins achtundsechzig groß. Schlank. Dicke Männer haben mich noch nie gereizt. Die aschblonden Haare stehen in einem Bürstenschnitt auf dem Kopf. Wie macht er es nur, dass er noch kein graues Haar hat? Wunderschöne, blaue Augen, die hinter einer Nickelbrille versteckt sind. Diese schönen Augen konnte ich auch schon während der Behandlung eingehend betrachten. Das Gesicht ist leicht rundlich. Am Abend im „Neuen Hut“ konnte ich öfters ein verschmitztes Lächeln darauf erkennen.
„Und was nun?“, reißt er mich aus meinen Gedanken. „Worauf hätten Sie Lust? Was würden Sie gerne essen?“
„Das sind zu viele Fragen auf einmal. Meine Entscheidungsfreudigkeit ist um diese Zeit sehr eingeschränkt. Sicher ist, ich persönlich werde nur ein bisschen essen. Ein kleiner Salat oder so. Ich richte mich ganz nach Ihnen.“
Worauf er antwortet: „Salat. Nicht schlecht! Wir sitzen schon im Auto. Auf zum Lenbachplatz!“
„Sie sitzen am Steuer.“
Er startet. Wir fahren zum Lenbachplatz. Auf der Fahrt habe ich nochmals Gelegenheit festzustellen, dass Markus durchaus gut und sympathisch aussieht. Was mir schon beim letzten Mal auffiel, sind seine ausgesprochen schönen Hände. Durchaus kräftig, aber die Finger lang und knochig. Sein Gesichtsausdruck hat auch jetzt das verschmitzte, lausbubenhafte Lächeln. Also alles in allem wirklich kein Mensch, der einen Angst einjagen sollte. So wie sein Verhalten bisher war, ist es auch heute. Während des Anrufs, hat er offen und ehrlich geklungen. Genauso sieht er auch aus. Man möchte Vertrauen zu ihm zu haben. Ich bin wieder in Gedanken vertieft. Das Schweigen, das herrscht, fällt mir nicht auf. Als er spricht, schrecke ich beinahe zusammen.
„Ich habe Ihnen hoffentlich wirklich keine Unannehmlichkeiten gemacht als ich anrief?“, höre ich ihn sagen. „Erst als es schon läutete, kam mir die Idee, Sie wollten vielleicht gar nicht, dass ich anrufe. Sie hatten mir Ihre Nummer nicht gegeben. Aber ich wollte nicht einfach auflegen. Sie müssen entschuldigen.“
„Nun ja, mein Mann war schon sehr erstaunt, dass mein Zahnarzt anruft und mich zum Essen einlädt, aber ich habe ihm ein starkes Schlafpulver verabreicht. Bis morgen Früh schläft er durch“, erzähle ich und werde nicht rot dabei.
„Machen Sie das immer, dass Sie Ihrem Mann Schlafmittel verabreichen, wenn Sie abends aus dem Haus gehen wollen?“, will er ungläubig wissen.
Grinsend antworte ich: „Inzwischen ist er es gewöhnt.“
Jetzt lacht er und äußert die Vermutung: „Dann ist Ihr Mann bestimmt um die hundert und scheintot.“
„So ähnlich“, gebe ich zu. „Mein Mann lebt nicht mehr und Sie haben mit Ihrem Anruf auch keine vermeintlichen Kinder geweckt. Das wollten Sie doch wissen“, vermute ich.
„Ja, darauf habe ich wohl angespielt“, gibt er leise lachend zu. „Ich wollte wirklich nicht indiskret werden. So, da sind wir. Jetzt heißt es nur noch einen Parkplatz zu finden.“
Er hat Glück und kann sofort einparken. Wir betreten das Lokal. Sogar einen Tisch für zwei Personen ergattern wir. Wir sitzen uns am Tisch gegenüber. Nachdem wir ausgewählt haben, schaut er mich direkt an. Wenn ich doch nur wüsste, was er von mir will! Warum hat er mich heute angerufen? Es war doch an mir, mich zu melden. Irgendetwas funktioniert bei mir oder bei ihm nicht. Was findet er nur an mir? Ich bin nicht reich. Ich bin nicht sonderlich jung, fünfunddreißig, und sehe absolut normal aus. Braunes Haar, mit etwas Grau durchzogen, die Augen braun, grün, etwa ein Meter achtundsechzig, nicht schlank und nicht dick, Gesicht normal, und eine Stupsnase mitten drin. Das ist auch schon alles. Wirklich nichts Besonderes! Vielleicht erfahre ich den Grund heute.
Der Kellner kommt und wir bestellen.
Dann fährt Markus fort: „Ich will nicht weiter neugierig sein, aber was arbeiten Sie denn, wenn Sie abends zu Hause beschäftigt sind? Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen.“ Dabei lächelt er mich entwaffnend an.
Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass ich vom waagrechten Gewerbe bin. Wie soll ich da nicht antworten wollen? Übersetzen ist nichts Geheimnisvolles. Und so sage ich:
„Das ist kein Geheimnis. Mein Beruf hat nichts Schlechtes an sich. Was man sonst auch darüber sagen mag. Ich bin Prostituierte.“
Er hat sich gut in der Hand, denn seinem Gesicht ist keine Andeutung von Erstaunen oder gar Entsetzen anzumerken. Und wieder lächelt er und meint:
„Na, das vereinfacht mein Ansinnen um vieles.“ Und jetzt lacht er schallend.
Ich hätte jetzt aufstehen und das Lokal verlassen müssen. Die andere Variante wäre gewesen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Ich mache nichts von alldem. Mit einem Schlag ist mir klar, er will nur das eine und hofft, ich bin dazu sofort bereit. Entgegen meinem gesunden Verstand bleibe ich wie angenagelt sitzen, als er auch schon fortfährt:
„Nein, im Ernst. Sind wir denn nicht alle in gewisser Weise versklavt oder prostituiert? Durch Steuern, Gesetze, die zu beachten sind, Regeln