Walter Wosp

ASIA B-C


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höre mich ganz leise, aber niemand reagiert. ›Sind die nur zu weit weg, ist der Verkehr zu laut oder war ich wieder zu leise, die müssen doch auch die Filme gesehen haben.‹ Nächster Versuch, ich schreie: »WO BIN ICH?«

      Endlich eine Reaktion: »Bleiben Sie ganz ruhig liegen, es kommt gleich die Rettung.«

      ›Welche Rettung? Wovon redet der, ich will wissen, wo ich bin. Aber eigentlich ist es mir egal, wo ich bin, ich liege da vor all den Leuten blöd auf dem Bauch, ich muss endlich aufstehen. Warum liege ich überhaupt da, warum bin ich noch nicht längst aufgestanden, und wo zur Hölle ist meine Brille? Ich muss jetzt aufstehen.‹ Ich versuche mich aufzurichten, kann mich aber keinen Zentimeter bewegen. Ich kann mich nicht aufstützen, ich spüre meine Hände nicht. ›Ich spüre überhaupt nichts und wie liege ich da eigentlich? Hmmm ... Völlig flach, nur die Beine stehen in die Höhe. Ich liege auf dem Bauch und die Beine sind bei den Knien angewinkelt. Die Unterschenkel stehen im rechten Winkel nach oben. Das muss ja ziemlich blöd ausschauen, streck die Beine aus, dann liegst du wenigstens flach … Nur, warum soll ich mich flach legen? Ich MUSS endlich aufstehen und meine Brille suchen.‹

      Ich versuche mich zu bewegen, die Beine anzuziehen, irgendwo anzuhalten, irgendwo abzustützen, irgendetwas zu tun. Nichts! Ich liege da, kann nicht einmal einen Finger bewegen.

      ›Das gibt´s doch nicht, alles noch einmal von vorne.‹

      Ich versuche nochmal, irgendeinen Körperteil zu bewegen. Linker Arm, keine Reaktion, rechter Arm, nichts. Rechter Fuß, die Zehen nach unten, nichts bewegt sich, linker Fuß, wieder nichts, jeder Fuß ist und bleibt beim Knie abgebogen, der Unterschenkel steht im rechten Winkel nach oben. Heute weiß ich, dass das ein Fehlimpuls der Nerven war, in Wirklichkeit liege ich völlig flach auf der Straße.

      ›ICH MUSS MUNTERBLEIBEN!!!‹

      Dann kommt plötzlich ein Gedanke, oft in der Vergangenheit aus Spass gesagt, niemals ernst gemeint: ›Ich sollte langsam in aller Ruhe in Panik kommen.‹ Fast muss ich lachen, der Satz ist in der jetzigen Situation zu absurd, aber völlig richtig. ›Sicher nicht, keine Panik, es tut ja nichts weh, ich bin eben nur so müde, dass ich mich nicht bewegen kann. Also nochmal von vorne, mit Ruhe und analytisch, wie mein Steuerberater immer sagt: Ich denke, also bin ich. Ha, der war gut, mein berühmter schlechter Humor funktioniert noch. Also mit Ruhe und analytisch noch einmal von vorne. Ich sehe mein Leben nicht vor mir vorbeiziehen, bin also nicht kurz vorm Sterben. Gut. Ich sehe Blut über meine Nase auf den Asphalt rinnen und den Asphalt direkt vor mir. Ich liege also auf dem Bauch. Nicht so gut. Es tut nichts weh. Gut. Ich spüre meine Hände nicht. Nicht so gut. Ich spüre meine Beine. Gut. Ich liege auf dem Bauch und beide Beine sind bei den Knien angewinkelt und stehen nach oben. Das muss ziemlich blöd ausschauen, ich muss jetzt wirklich aufstehen. Das kann ja nicht so schwer sein. Ich muss sie ausstrecken, dann kann ich die Knie anziehen und aufstehen. Und meine Brille brauche ich auch noch.‹

      »Er bewegt sich nicht, wir ziehen ihn da jetzt raus.«

      Eine sehr laute Stimme: »Oida, du mochst mi fertig. Zum letztn moi. Los eam liegn.«

      Wer immer das auch gewesen ist, heute weiß ich, ich muss ihm mein Leben lang dankbar sein.

      »Dann gib wenigstens das Rad weg.«

      »Lassen Sie alles liegen, so wie es ist, lassen Sie das die Rettung machen.«

      Sirenen.

      ›Welches Rad? Bin ich mit einem Rad gefahren? Egal, wichtiger ist, dass ich endlich aufstehe. Also noch einmal, das kann ja jedes Kleinkind. Beine ausstrecken. Streck sie aus! Sie stehen in die Höhe. Na und, streck sie aus! ICH KANN SIE NICHT AUSSTRECKEN! ICH SPÜR SIE, ABER ICH KANN SIE NICHT BEWEGEN!‹

      »Können Sie mich hören?« Eine neue Stimme, eine weibliche. »Können Sie mich hören?«

      Ich realisiere, sie meint mich.

      »Ja, klar.«

      »Können Sie mich hören? Reden Sie mit mir.«

      »Ich habe ja gerade gesagt, dass ich Sie hören kann.«

      »Bitte reden Sie mit mir.«

      Ich räuspere mich, schreie: »ICH KANN SIE HÖREN!!!«

      »Gut, ich höre Sie ganz leise. Wie geht es Ihnen, haben Sie Schmerzen?«

      ›Soll ich oder soll ich nicht?‹ Es liegt mir auf der Zunge: nur wenn ich lache. Dann traue ich mich doch nicht, ich sage: »Keine Ahnung, ich spüre nichts.«

      »Ich bin die Notärztin.«

      ›Eine Notärztin? Oh, mein Gott, ich habe ich einen Unfall gehabt! Gott sei Dank habe ich mich vor dem Wegfahren geduscht. Die Unterwäsche ist auch frisch, Mutter sei Dank, jahrelang habe ich als Kind gehört, zieh jeden Tag eine neue Unterhose an, wenn dir einmal was passiert, was sollen die Leute sagen.‹

      «Können Sie mich sehen?«

      ›Warum denke ich gerade jetzt an meine Mutter? Das macht man doch normalerweise, wenn man Angst vorm Sterben hat. Scheiße! Die Blutlache. Muss ich doch sterben?‹

      «Hallo. Können Sie mich sehen?«

      »Bitte?«

      »Können Sie mich sehen?«

      Ich versuche den Kopf etwas zur Seite zu drehen, nein, ich drehe ihn nicht, ich kann ihn nicht drehen, kann nur die Augen etwas nach hinten bewegen. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun.

      ›Was ist da los? Ich spüre meine Hände nicht, ich liege auf dem Bauch und meine Beine stehen in die Luft. Schlimm genug. Und jetzt kann ich den Kopf auch nicht mehr bewegen?‹

      »Nein, ich habe meine Augengläser verloren. Sie müssen schon etwas näher kommen.«

      Die Stimme kommt näher, ist direkt neben meinem Kopf.

      »Sehen Sie mich jetzt?«

      »Ja, blonde Haare und ein Rossschwanz und hübsch sind Sie auch, glaube ich.«

      ›Pfau, was bin ich für ein cooler Typ, liege da auf dem Bauch und blödle trotzdem.‹

      »Rossschwanz stimmt, bleiben Sie ganz ruhig liegen. Wissen Sie, wie sie heißen?«

      Ich sage ihr meinen Namen und dann: »Sehen Sie hier irgendwo meine Brille?«

      »Wir werden sie schon finden, ich suche sie gleich, vorher müssen wir noch ein paar andere Sachen klären. Haben Sie Angehörige? Können wir jemanden erreichen, haben Sie eine Frau?«

      »Ja, ich habe eine Frau, Julia, heute ist mein fünundzwanzigster Hochzeitstag.«

      ›Oh, Scheiße, HEUTE IST MEIN FÜNFUNDZWANZIGSTER HOCHZEITSTAG!‹

      »Wie können wir Ihre Frau erreichen?«

      ›Warum will sie meine Frau erreichen, ich habe ja nichts, ich kann nur nicht aufstehen.‹

      Die Stimme wird drängend: »Telefon, hat Sie ein Handy?«

      Ich sage ihr die Handynummer.

      »Adresse?«

      Ich sage ihr die Adresse.

      »Spüren Sie das?«

      »Was soll ich spüren, ich spüre nichts.«

      »Spüren Sie das?«

      »Nein, was machen Sie, ich spüre nichts! Ich brauche meine Augengläser.«

      »Keine Sorge, wir finden sie sicher. Versuchen Sie ruhig zu bleiben und bewegen Sie sich nicht.«

      Fast muss ich lachen, ich kann mich nicht bewegen, nicht den Kopf, nicht die Arme, nicht die Beine, nur die Augen drehe ich wieder Richtung Blutlache. Beruhigend redet die Ärztin weiter auf mich ein, ich höre zwar die Stimme, kann aber nicht begreifen, was sie sagt.

      ›Konzentrier dich, sie redet über dich, hör zu!‹

      Dann höre ich, wie sie sagt: »Ruft die Rettung. Zuerst ins Wilheminen und dann weiter ins UKH mit