Xaver Engelhard

Bill & Bill


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war ausgezeichnet. Es gab zwar gelegentlich Bomben in einem Kino, Brandstiftung in einer Raffinerie, Attentate auf Kasernen, Stromausfälle, Demonstrationen und Staatsstreiche, aber das alles wirkte auf die Gäste, sofern sie überhaupt davon Kenntnis nahmen, wie Elemente eines konfusen Intrigenspiels, das zu ihrer weiteren Unterhaltung aufgeführt wurde. Die Bauernaufstände und Militärrevolten schienen sich regelmäßig zu wiederholen und erhielten dadurch eine absurde, irgendwie komische Note. Bill kümmerte sich wie die meisten expatriates kaum um die politische Situation und hätte nicht zu sagen gewusst, wer der aktuelle Machthaber war.

      Es vergingen zwei Jahre. Bill war inzwischen im Kasino etabliert und arbeitete abends an den teuersten Tischen. Er war umgezogen und wohnte bei einem so gut wie tauben Zahnarzt und dessen Frau nahe der Endstation der Linie 17. Er war in eine Tänzerin verliebt, die ihm Pierre vorgestellt hatte, damit er ihr über den Tod ihres Manns hinweghelfe, eines Stierkämpfers, der nach Mexiko zurückgegangen war und schon in seinem ersten Kampf nach mehrjähriger Pause in der Arena von Cuernavaca aufgespießt wurde. Sie hieß Nina und bot einen spektakulären Anblick, wenn sie den Malecon entlang eilte und der Wind und ihre langen Schritte den Rock über die Knie rutschen ließen und die Jacke oder eine dünne Weste hinter ihr her flatterte wie lose Segel. „Glorios!“, hatte Bill gestammelt, als er ihrer das erste Mal ansichtig geworden war. Ein Abgrund schien sich aufzutun zwischen ihr und den normal Sterblichen. Ihre Schönheit war tröstlich und vernichtend zugleich.

      Sie war Tochter eines norwegischen Seemanns, der von ihrer Existenz nie erfahren hatte. Im Tanz, einer langsamen Habanera mit schmachtenden, glutvollen Blicken, die das nordische Herz zerschmolzen, hatte sie ihren Ursprung; und Tanzen war alles, was sie wollte. Bill machte sein Herz zu ihrem Tempel und weihte ihr sein Leben. Er überhäufte sie mit Geschenken. Er liebte es, mit ihr in den Boutiquen in der Rampa, der Straße mit den teuersten Läden, einzukaufen. Ein Kleid dort kostete ihn einen ganzen Monatslohn, aber die Verkäuferinnen waren fast genauso schön wie Nina; und ihm wurde ein Sofa oder ein barocker, mit Schnitzereien und Blattgold verzierter Stuhl zurechtgerückt, damit er von der ersten Reihe aus miterleben konnte, wie seine Göttin aus dem Umkleideraum trat. Bill rührte in einem Kaffee oder nippte an einem Cognac. Eine Tür ging auf; ein Vorhang wurde zurückgerissen; die Verkäuferinnen schlugen beglückt die Hände vor der Brust zusammen; die Chefin, die sich durch Perlen, einen ausländischen Akzent und mal grau, mal blau melierte Haare auszeichnete, blickte kurz von den Rechnungen oder den Modezeitschriften auf, in denen sie blätterte, und nickte anerkennend; und Bill lächelte selig, ganz verzaubert von dem Anblick, der sich ihm bot und der auch auf alle anderen Anwesenden derart berückend wirkte, dass man es den beiden in keinem der Geschäfte, die sie besuchten, übel nahm, wenn sie wieder nur eine Bluse oder eine Hose kauften oder manchmal auch nur ein Seidentuch. Und diese Nachmittage fanden ihren krönenden Abschluss, wenn Bill, zwei, drei Einkaufstüten in dem einen Arm, in dem anderen die noch von der Aura des so eben erst abgelegten Chanel-Kostüms oder der schweren Herzens zurückgelassenen Balenciaga-Robe erfüllte Nina, den Weg hinunter zum Hafen einschlug, wo sie sich ein Zimmer in einem hotelito nahmen, einem der bei der lokalen Bevölkerung so beliebten Stundenhotels. Die moderigen Gassen, in denen auch tagsüber ein paar Prostituierte standen, die wissenden, mal verschämten, mal herausfordernden Blicke, die ihnen andere Paare in dieser Gegend zuwarfen, die schwarze Holztür, die sich, so schien es ihnen, nur zu zweit und mit ganzem Einsatz beider Körper aufdrücken ließ, das kurze Geplänkel mit der ein wenig verkommenen Dame hinter dem kleinen Fenster im Flur, die schmale und steile, eng sich wendelnde Treppe, Ninas Hintern, der unter dem Kleid hin und her schaukelte, der Saum, der ihre Schenkel streichelte, ihre muskulösen Waden, die von hohen Absätzen gestützten Fersen, der finstere Gang, der ein wenig nach Schmierseife roch, vielleicht ein Stöhnen irgendwo, ein erstickter Schrei, ein paar traurige Topfpflanzen, die vielen Türen mit den Nummern und dann endlich die ihre, meistens die 23, manchmal die 34, der Schlüssel, das Schloss, endlich das kühle, ganz verdunkelte Zimmer, in dem es ein großes Bett gab, einen Tisch, eine Emailkanne, eine Waschschüssel, ein zerschlissenes Handtuch und sonst nichts: Das alles schuf eine köstliche, am Ende fast, aber eben nur fast nicht mehr zu ertragende Spannung, die sich immer noch weiter steigerte und kein bisschen nachließ, während sie einander die Kleider von den inzwischen glänzenden, leicht feuchten, delikat nach Schweiß, Moschus und den zwei, drei Parfümproben an Ninas Handgelenken riechenden Leibern streiften und auf dem rauen Laken niedersanken und ihren Händen, ihren Mündern ihren Willen ließen.

      Jeden Samstag bauten drei Kellner auf hohen Leitern an einer Pyramide aus Kristallkelchen. Gegen Mitternacht wurde Magnum um Magnum hinaufgereicht und in das oberste Glas geleert, über dessen Rand der Champagner dann in die Gläser darunter perlte, bis auch diese überliefen und die nächste Etage füllten und immer so weiter. Im Ballsaal wechselten zwei Orchester einander alle halbe Stunde ab: die Jimmy-Dawson-Seven für den Swing und Mario Souza mit seinen schnauzbärtigen Mambas für den Mambo. Die Gäste tranken, tanzten und spielten, bis es hell wurde und oft noch weit darüber hinaus; und es war Brauch, kurz vor Sonnenaufgang die schweren Vorhänge vor den deckenhohen Fenstern zuzuziehen, damit niemand sich durch den nahenden Tag belästigt oder zum Gehen gezwungen fühlte. Die Frauen waren schön und hemmungslos, die Männer reich und waghalsig; und das Geld wurde weggeworfen, als wäre es Ballast.

      Yo me quiedo solo / Estas cubierta de oro / Veo como te hundes, sang Mario mit der Trompete und einem weißen Tüchlein in der Hand. Die, die am Kartentisch oder Roulette alles verloren, glaubten sich endlich von einer Sünde gereinigt und luden wahllos ein, dies mit ihnen zu feiern. Das Ende stand vor der Tür, und jeder wollte sich noch einmal von seiner besten Seite zeigen.

      Und jeden Samstag fand sich ein betrunkener Trottel, der ein Glas aus der untersten Reihe der Champagner-Pyramide ziehen wollte und von den Kellnern in weißen Jacken niedergerungen werden musste, damit er nicht den kostbaren Glasturm vor der Zeit zum Einsturz brachte. Meist trug der Saboteur ein Hawaiihemd, was allein schon ein entsetzlicher Affront war hier in der Karibik, oft war er ein unermesslich reicher Ölkonzessionär aus Texas oder ein verschwitzter Fleischgroßhändler aus Chikago, denen die Direktion am nächsten Morgen einen Obstkorb auf das Zimmer bringen ließ als Zeichen der Versöhnung.

      Mario Souza und seine heißblütigen Mambas brachten die Gäste schnell zum Schwitzen. Und wenn dann plötzlich der warme Schein der Kristallleuchter erlosch und die Kuppel des Ballsaals sich schwarz und endlos wölbte wie ein Himmel ohne Sterne und der spiegelglatte Boden wegsackte und die ganze lustige Gesellschaft in einem finsteren Nichts schwebend zurückließ, in dem jeder Schritt gefährlich schien, mischten sich Anita und Guillermo unter die Tanzenden, die schwarze Küchenhilfe und der pockennarbige Kellner, und während die meisten Gäste einander in der Dunkelheit schwerfällig auf die Füße traten oder sich lieber gleich darauf verlegten, in einander Wäsche zu wühlen, wirbelten die beiden zu den Klängen einer luftigen Merengue oder einer scharfen Salsa umeinander, und selten tanzten sie schöner, in blindem Einverständnis, selbstvergessen und unbefangen, ungesehen von allen anderen.

      Bill handhabte die Kelle, mit der er die Karten aufnahm und umdrehte, mit professioneller Gleichgültigkeit und ließ sich jetzt, zur Hauptgeschäftszeit, da es um die größten Beträge ging und zwischen all den Verrückten und Verzweifelten ein geschickter Profi leicht unentdeckt blieb, jede Stunde ablösen. Dann schlenderte er in dem schwarzen Anzug, den er sich selbst hatte kaufen müssen, ohne auf Schnitt oder Stoff Einfluss zu haben, durch die verschiedenen Säle, sah bei einigen seiner Kollegen zu, deren Gesicht beim Spiel ebenso ungerührt blieb wie das seine und nicht die geringste Genugtuung über die Verluste der Gäste äußern durfte und schon gar keine Verärgerung, falls diese einmal gewinnen sollten, und landete schließlich beim großen Roulette-Tisch.

      Die hohen Fenster standen offen; die Gardinen bauschten sich träge; die Lichter spiegelten sich tausendfach im Kristall der Lüster, in den Brillanten der Geschmeide, in den Gläsern, den makellosen Gebissen, den schweißbenetzten Dekolletés, auf fettigen Nasen, vor Pomade strotzendem Haar und blank polierten Schuhen. Die Kellner rannten mit ihren Tabletts hin und her; vom Tanzsaal drang die Musik herüber; an der hundert Meter langen Bar nebenan, vor deren Spiegel angeblich alle Rum-Sorten der Insel aufgereiht waren, wurde lauthals gelacht, aber hier, am Roulette, herrschte fast andächtiges Schweigen. Eine riesige Menschentraube umlagerte den Tisch; die Hintersten standen auf den Zehenspitzen und hielten denen vor ihnen ihre Zigaretten ans Ohr, schütteten ihnen