Xaver Engelhard

Bill & Bill


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zusammen, eine Art Initiation, etwas, um das Ende meiner Kindheit zu markieren, meiner Unschuld, und von da an spüre ich sie tatsächlich, eine zentrifugale Kraft, welche die ursprüngliche Einheit zerstört hat und uns als vereinzelte Partikel unerbittlich immer weiter ins Nichts treibt, in ein eisiges, einsames Exil, und ihr entgegengesetzt ein wortloses Sehnen nach Erfüllung, Ergänzung, Vollkommenheit, ein verzweifeltes Verlangen, irgendwie dem expandierenden Verhängnis zu entkommen und aus der Verbannung heimkehren zu dürfen und Vergebung zu erfahren, bedingungslose Aufnahme und Glück.

      Hey, Mister, was tun Sie da?

      Was geht dich das an? Ich besuch meine Großmutter. Ich habe mal hier gewohnt.

      Bei der Hexe?

      Welcher Hexe?

      Na der hier! Er verdreht die Augen, als wäre ich schwer von Kapee. Ein Zwerg mit Micky-Mouse-Ohren! Sie fängt kleine Kinder, nagelt sie mit den Füßen an einen Balken im Keller und holt sich jeden Abend nen Liter Blut, aus dem sie Suppe kocht.

      Falls das stimmt, haben sie es bestimmt nicht anders verdient. Bonanza-Räder, so hießen die Dinger. Dachte, die sind längst ausgestorben. Schauen aus wie neu. Kann mir nicht vorstellen, dass die beiden kleinen Pisser irgendwas von der Schrotthalde holen. Nicht in dieser Gegend! Wyatts kleine Brüder! Der bei ihr lag. Der …

      Helfen Sie ihr?

      Ich bring ihr gelegentlich frische Beute. Wenn ihr mit reinkommt, zeige ich euch, wie’s geht.

      Den Trick kennen wir. Unsere Eltern haben uns vor Typen wie Ihnen gewarnt. Schmutzigen alten Männern!

      Ich bin nicht alt. Nur von der Zeit gezeichnet, dem bleichen Schrecken.

      Dann geben Sie also zu, dass Sie schmutzig sind! Triumphales Lachen.

      Alle Erwachsenen sind das! Verdorben vom Wissen, verstoßen seit wir fragen nach dem Sinn.

      Haben Sie es schon einmal mit Waschen versucht? Noch mehr Lachen.

      Ich mache einen Schritt auf sie zu. Sie verschwinden wie Gespenster. Miese kleine Quälgeister, aber sie wissen nicht. Noch nicht!

      Der hämische, weiß geschminkte Conférencier hatte das alte Jahr um Mitternacht ausgezählt wie einen angeschlagenen Boxer, der nicht mehr auf die Beine kommt; die Sylvester-Gesellschaft im Casino hatte gejubelt wie über einen vermeintlichen Sieg; die Mambas hatten einen Tusch gespielt; und die hektische, spannungsgeladene Stimmung, die ohnehin über der ganzen Insel lag, hatte sich zu einem frenetischen Tanz am Abgrund gesteigert und erst wieder beruhigt, als die Sonne aufging und offenbarte, dass sich nichts geändert hatte. Die Gäste wurden plötzlich müde und gingen nach Hause; die Musiker packten Noten und Instrumente ein; die Kellner begannen, die überall herumstehenden Gläser und Teller einzusammeln.

      Ein paar letzte Spieler belagerten Pierres Tisch. Bill hatte seine Karten längst weggepackt und sah seinem Freund zu, wie dieser mit grauem Gesicht stoisch seiner Arbeit nachging. Endlich hatte einer der Aufseher, die mit hinter dem Rücken verschränkten Händen durch die Säle schlenderten, ein Einsehen und gab mit einem Nicken die Erlaubnis, Schluss zu machen; und Pierre durfte dem leisen Protest der Süchtigen zum Trotz zum letzten Spiel aufrufen. Er kontrollierte noch einmal die Chips, überreichte sie dem Kontrolleur und breitete, als sich die Gäste dem Gehen und vielleicht weiteren Vergnügungen zugewandt hatten, mit Bills Hilfe eine schwere Plane über sein Roulette.

      „Wurde auch Zeit“, stieß Pierre zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

      „Du wirkst, als könntest du die Pause gut gebrauchen.“

      „Du etwa nicht?“ Pierre warf Bill einen verwunderten Blick zu. Seit Weihnachten arbeiteten sie praktisch ohne Unterbrechung und hatten dafür jetzt vier Tag frei.

      „Doch!“ Bill grinste. „Und ich verspreche dir, du wirst über die Mädels staunen. Tänzerinnen im Tropical!“

      „Dann kenne ich sie schon! Ich kenne sie alle, die sogenannten Tänzerinnen vom Tropical.“

      „Nein wirklich! Sie sind echte Tänzerinnen. Ich habe ihre Schenkel geprüft. Hart wie Stahl!“

      „Und mit denen schneiden sie uns vermutlich den Kopf ab oder etwas noch Wichtigeres!“

      „Es gibt nur einen Weg, herauszufinden, ob das stimmt.“

      Sie machten sich auf den Weg zum Personalausgang und winkten den Putzfrauen zu, die bereits damit beschäftigt waren, die gröbsten Spuren der Gala zu beseitigen, damit möglichst bald der Alltagsbetrieb wieder aufgenommen werden konnte. Die Freunde gelangten zum Parkplatz hinter dem Kasino und stiegen in Pierres zweifarbigen Fiat Millecento, einem der ganz wenigen Exemplare auf der Insel, der aus einem fehlgeschlagenen Versuch stammte, die italienische Marke auf Kuba heimisch zu machen. Sie öffneten das Rolldach der kleinen Limousine, fuhren zum Meer und folgten der Küstenstraße westwärts. In jeder Kurve gehorchten sie den Zentrifugalkräften und warfen sich mit Begeisterung nach außen. Pierre steuerte einhändig, wann immer Bill ihm die Rumflasche überließ, die er halb leer auf einem Tisch im Kasino gefunden hatte. Sie umrundeten die erste Bucht und die nächste und erreichten ein kleines Kap. Unten am Strand stand die Bar Flamingo, ein schmuckloser Kubus mit einem Flachdach, auf dem immer noch Gäste zu den Klängen einer Victrola tanzten, als wollten sie nicht wahr haben, dass die Nacht längst vorüber war, und genau dieses Etablissement steuerten die beiden Freunde jetzt an.

      „Ah, mes amis, les messagers du bonheur!“, jubelte ein dicker Schwarzer hinter der Theke, als Pierre und Bill durch den mit Glasperlen verhängten Eingang schlüpften. Théophile stammte ursprünglich aus Haiti. Er stellte das Glas beiseite, das er gerade poliert hatte, und kam mit weit ausgebreiteten Armen auf die beiden zugewatschelt. „Mes freres, je vous souhaite une année très très heureuse! Ich hatte schon die `offnung aufgegeben, dass ihr noch kommt.“ Er umarmte beide und presste sie an sein buntes Hemd. „Aber es sind noch fast alle da. Ich `ab gesagt, es geht keiner, bevor nicht Pierre et Biel ´ier sind. Espécialement les deux danseuses, ganz bezaubernde Geschöpfe, die sich verzehren vor Sehnsucht und sich trösten auf dem Dach, so gut es geht, mais naturellement il n’y a personne, der mit meine Brüder konkurrieren könnte.“

      „Das wollen wir hoffen, du alter Kuppler.“

      „Ein Kuppler, moi?“ Théophile verdrehte empört die Augen, so dass nur noch das Weiße von diesen zu sehen war. „Das ist sehr ungerecht, cher Pierre. Ich will nur, dass alle glücklich sind. Sind die Gäste glücklich, ist der Wirt glücklich.“

      „Und die Kasse erst recht!“ Pierre gelang es endlich, sich aus Théophiles Umarmung zu befreien. Er setzte sich an einen langen, mit Gläsern, Tellern und Flaschen übersäten Tisch, an dem einige Gestalten in verschiedenen Stadien der Trunkenheit und Verwahrlosung lungerten. Bill begab sich derweil auf die Suche nach den Mädchen.

      „Was ist denn mit dem los?“ fragte Pierre seinen Kumpel Balancero und wies mit dem Daumen auf Nico, einen jungen Trompeter, der bei den Mambas spielte und jetzt ganz allein am anderen Ende des Tischs saß. „Bekommt ihm das Tageslicht nicht?“

      „Hat sich mal wieder mit Souza gestritten“, erläuterte der riesige Balancero mit einem Bühnenflüstern. Er trug ein Barett, das er bis zu beiden Ohren herabgezogen hatte. „Er hat sich an Souzas Tochter rangemacht, damit die ihren Vater überredet, es mal mit einem von Nicos Arrangements zu versuchen, aber Souza hat Lunte gerochen und ist jetzt stinksauer.“

      „Gar nicht wahr“, brummte Nico, der plötzlich den schwarzen, kugelrunden Kopf hob. „Wir haben uns nicht gestritten. Nicht diesmal! Laura hat ihm heimlich die Noten in die Tasche gesteckt; und er hat sie sich angeschaut und findet, was ich komponiert habe, auch ganz gut, aber er meint, wir brauchen keine neuen Nummern mehr.“ Nico blies die Backen auf. „Natürlich braucht er keine neuen Nummern mehr! Er ist bald sechzig und spielt bei den Americanos im Fernsehen und in den Clubs von Miami, aber ich, wenn ich mir nicht noch schnell nen Namen mache, werd nur die Wahl haben zwischen patriotischen Märschen und ner Karriere als Küchenhilfe. Das wird hier nicht anders laufen als in Russland. Die Revolution ist eine feine Sache, aber eher was für die Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern und nicht für