Thomas Spyra

Wildgänse


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Aufbau einer eigenen Werkstatt, für das Erlangen von Ansehen und Reichtum lag hinter ihm. Er hatte es mithilfe seiner Frau zu etwas gebracht. Aber dann vor knapp einem Jahr wurde er aus der Zunft ausgeschlossen und nun durfte er keine eigene Werkstatt mehr betreiben. Er war mit seinen aufrührerischen Reden bei den Stadtoberen unerwünscht. Wer Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen forderte, war ein Querulant und so einen wollte man nicht innerhalb der Stadtmauern haben.

      So hatte er seinen beruflichen und gesellschaftlichen Auf- und Abstieg in der Freien Reichsstadt Windsheim erlebt. Zu guter Letzt blieben ihm nur noch Flickschneiderei und Gelegenheitsarbeiten, sodass er für sich und seine Frau keine Zukunft mehr in der Stadt gesehen hatte.

      Am ersten Montag im März 1736 hatten sie sich gemeinsam in aller Herrgottsfrühe auf den Weg gemacht. Frierend saß er auf dem Kutschbock, zog die Decke fester um sich. Die ersten Morgennebel lichteten sich bereits im Aischtal. Rotglühend schimmerte die aufgehende Sonne durch die Bäume des dichten Waldes. Der Morgensonne entgegen hinauf in Richtung Frankenhöhe, einer Hügellandschaft zwischen dem Aisch- und Zenntal im Rangau, ging die Reise. Dichte Eichen- und Buchenwälder bestimmten die Landschaft, nur unterbrochen von kleinen Dörfern und Weilern, hauptsächlich Besitzungen, die sich die verschiedenen Familien der Reichsfreiherren von Seckendorff mit den Rittern des Deutschherrnordens teilten. Zwielichtiges Gesindel, umherziehende Soldaten und Räuber sollten in den dunklen Wäldern hausen. Nur gemeinsam trauten sich die Bauern, ihre Schweine und Kühe auf die wenigen Hutungen zu treiben.

      “Hü, ho, los vorwärts, hü”, schrie Christoph und trieb die Pferde mit dem schwer beladenen Reisewagen den steilen, steinigen Weg hinauf vorbei an der Burg Hoheneck. Er hatte zwar die Zusage des Burgherrn auf einen unversehrten Durchzug durch die dichten Wälder des Hohenecker Schussbachforstes, aber trotzdem war er froh, als sie das etwas lichtere und sichere Zenntal erreichten.

      Bis zum Abend wollten sie bei einem Freund, dem berühmten Kupferstecher Johann Adam Delsenbach in Nürnberg sein, der ihnen durch seine guten Verbindungen zu den Händlern eine Mitreisegelegenheit in einem Nürnberger Handelszug verschaffen wollte. Immer noch war es gefährlich, alleine oder in kleinen Gruppen zu reisen.

      Sie näherten sich der Freien Reichsstadt Nürnberg, eine der größten und reichsten Städte im ganzen Land. Vor vielen Jahren hatte Christoph hier seine Lehr- und Wanderjahre beendet und die Fertigkeiten eines Meisters erlangt.

      Sie fuhren aus dem Wald heraus und erschraken, als plötzlich vor ihnen Todesvögel aufflogen. Hunderte schwarzer Raben kreisten, verdunkelten den Himmel und ein markerschütterndes Krächzen und Kreischen lag in der Luft. Christoph brachte den Wagen abrupt zum Stehen und sprang vom Bock. Auf dem Acker hier vor der Stadt sahen sie viele aufgeworfene Erdhügel. Der Gestank des Todes brannte beißend in der Nase. Vermummte Gestalten mit Kapuzen und Tüchern vorm Gesicht zerrten von einem Karren Stofffetzen und Leichenreste auf einen brennenden Holzstoß. Andere waren dabei, Gruben auszuheben und Leichen hineinzuwerfen. Sie bestreuten die Toten mit Kalk und schaufelten die Gräber wieder zu.

      „Heda, macht, dass ihr weiterkommt“, rief ihnen einer der Wachen zu, „hier in den Dörfern vor der Stadt Nürnberg erntet der Schwarze Tod.“

      Entsetzt blickten die Bartels auf das Geschehen und rasch kletterte Christoph wieder auf seinen Kutschbock. Er hatte gedacht, diese Seuche sei endlich ausgerottet. Sie fuhren weiter in Richtung Spittlertor.

      Als sie am späten Nachmittag dort ankamen, fanden sie das Tor der Stadt verschlossen. Auf Anordnung des Stadtrates durfte niemand hinein oder heraus. Alle Reisenden mussten sich erst in ein Gehöft vor den Mauern der Stadt in Quarantäne begeben und dort zwei Wochen warten, bevor sie die Stadt betreten durften.

      Soviel Zeit hatten die Bartels nicht, sie wollten ja zügig weiter. Christoph gelang es, einen der Stadtwachen zu überreden, seinen Freund ans Tor holen zu lassen. Es dauerte sehr lange, bis Delsenbach auf der Stadtmauer erschien.

      „Grüß Gott Christoph, Ihr seid spät dran. Fang auf, hier habe ich ein Empfehlungsschreiben des Patriziers Abraham Levi Rosenzweig“, damit warf er ihnen den Brief von der Stadtmauer hinunter, „versucht es in den kleineren Städten und Dörfern nördlich der Stadt. Viel Glück und eine gute und gesunde Reise. Schreibt einmal, wenn Ihr angekommen seid.“ Delsenbach winkte ihnen noch einmal zum Abschied zu, bevor ihn einer der Wachen wegdrängte.

      Heute, drei Tage nach ihrer Abreise aus Windsheim, waren sie mit einigen Kaufleuten, denen sie sich angeschlossen hatten, bis kurz vor die fürstbischöfliche Residenzstadt Bamberg gekommen, als das Unglück über sie hereinbrach. Sie fuhren in einem mit herrlich weißblühenden Schlehengebüsch gesäumten Hohlweg einen steilen Berg hinunter. Lauer Frühlingsduft lag in der Luft.

      Christoph hatte Mühe, die Pferde zu zügeln. Obwohl er den Bremshebel fest angezogen hatte, schob der vollgepackte Wagen die Pferde abwärts. Plötzlich, mit lautem, markerschütterndem Geschrei stürzten von den seitlichen Hängen und den Bäumen maskierte Wegelagerer über den Kaufmannszug her. Alles ging sehr schnell. Des Meisters Pferde scheuten und brachen aus. Sie rasten mit der immer noch voll gebremsten Kutsche den Bergweg hinunter und rammten einen umgekippten Kaufmannswagen. Unten an der Kurve brach das Fuhrwerk nach links aus und flog über eine Böschung seitlich ins Gebüsch. Christoph wurde vom Bock geschleudert und landete durch das kratzende Dornengestrüpp in blühendem Bärlauch. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Wagen umkippte und das Gespann mit lautem Krachen nach unten verschwand.

      Völlig benommen lag er da, alles tat ihm weh. Der starke Knoblauchduft des Bärlauchs trieb ihn in die Höhe, er rappelte sich auf und sah entsetzt, wie die Räuberbande wütete. Wahllos stachen sie auf die Reisenden ein, rissen den Toten die Kleider von den Leibern und sackten alles ein, was sie gebrauchen konnten. Er hörte das laute und erbärmliche Schreien, Heulen und Betteln seiner Reisegefährten. Ängstlich kroch er tiefer zurück ins Gebüsch. Endlich zog die Bande mit den noch heil gebliebenen und nun vollgepackten Wagen der Reisegruppe ab. Noch eine kleine Weile, dann war Ruhe. Eine unheimliche Stille – Totenstille.

      Vorsichtig stand er auf und rannte erst leise, dann immer lauter rufend zur Schlucht: „Anna Maria!“ Keine Antwort. „Frau? Anna Maria!“ Stille - ihm war, als hielte die Natur den Atem an, die Angst kroch in ihm hoch. Lebte Anna Maria noch? Tränen brannten in seinen Augen, wo war sie?

      Dann - nahe am Abgrund fand er seine Frau, in sich zusammengekauert und schluchzend. Sie hatte gerade noch aus dem Wagen springen können.

      Gott sei Dank, auch sie war nur leicht verletzt und blutete aus einer kleinen Platzwunde am Kopf. Verzweifelt und glücklich zugleich klammerten sich beide aneinander. Sie hatten überlebt!

      Lautes Pferdewiehern drang von unten herauf. Christoph kroch an den Rand der Schlucht und entdeckte etwa acht Ellen tiefer seine zerschellte Kutsche und zuckende Pferdeleiber in einem knietiefen Bach.

      „Bleib hier und rühr dich nicht vom Fleck, man weiß ja nie, ob die nicht noch einmal zurückkommen. Ich klettere hinunter und sehe nach, ob noch etwas zu retten ist.“

      Vorsichtig rutschte Christoph den steilen Hang hinab, sich immer wieder am Gebüsch und an kleinen Bäumen festhaltend. Unten angekommen zerschnitt er die Riemen der eingespannten Pferde und löste sie vom Wagen. Er versuchte die Gäule einen nach dem anderen hochzuziehen. Aber es gelang ihm nicht. Laut wieherten die Pferde vor Schmerzen und knickten immer wieder ein, wenn er versuchte ihnen aufzuhelfen. Offensichtlich waren beide schwer verletzt, hatten sich Fesseln oder Beine gebrochen. Schweren Herzens erlöste er sie von ihrem Leiden und schnitt ihnen die Halsschlagadern durch. Das zweite Pferd zuckte noch einmal auf und ein großer Schwall Blut spritzte Christoph von oben bis unten voll.

      Die Kutsche war nur noch ein Trümmerhaufen. Zusammen mit Anna Maria, die ihm nachgerutscht war, blieb ihm nichts anderes übrig, als die schweren Reisetruhen und ihre sonstige Habe aus dem Bach ans trockene Ufer zu ziehen. Aus dem nun offen stehenden Geheimversteck am Wagenboden nahm Christoph seine Gold- und Schmuckstücke an sich und versteckte sie in seinem weiten Mantel.

      Erschöpft setzten sie sich auf eine der Kisten. Sie hatten Glück im Unglück gehabt. Dadurch, dass ihr Wagen das Steilufer hinabgestürzt war, hatten die Räuber sich nicht die Mühe gemacht,