Eng kuschelten sich die Eheleute aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Jetzt im März war das Wasser doch recht kalt.
„Es wird bald Nacht, ich laufe zurück zum letzten Dorf, durch das wir vor etwa zwei Stunden gekommen sind, und hole Hilfe.“
„Bleib hier, bitte lass mich nicht alleine, ich habe Angst, die Räuber könnten zurückkommen. Warten wir lieber, bis jemand vorbeikommt“, flehte ihn seine Frau an.
„Also gut! Sehen wir erst einmal nach, was mit den anderen ist.“
Beide kletterten den Hang hinauf und schlichen vorsichtig zum Weg zurück. Nichts rührte sich mehr. Auf dem schmalen Hohlweg verstreut lagen die Ermordeten, grausam verstümmelt, halbnackt, ihrer Kleidung beraubt. Erbarmungslos hatten die Halunken auf die wehrlosen Kaufleute und ihre Gehilfen eingestochen, Hälse aufgeschlitzt und Köpfe eingeschlagen.
„Christoph, komm, hier lebt noch einer!“, rief Anna Maria plötzlich.
Nach weiterem Suchen fanden Christoph und Anna Maria nochmal einen schwer verletzten Kaufmann und eine ältere Dienstmagd. Diese hatte ebenso viel Glück gehabt wie sie und lediglich einige Abschürfungen davongetragen. Aber nervlich war sie völlig am Ende, zitterte und schluchzte in einem fort. Nur mühsam brachten sie aus ihr heraus, dass sie neben ihrer Herrschaft auch ihren Mann und ihren Sohn, beide Kutscher, bei dem Überfall verloren hatte.
Mit Stoffstreifen aus zerrissenen Kleidern, die verstreut herumlagen, verbanden sie notdürftig die Wunden der beiden Händler. Sie beratschlagten gerade, wie es nun weiter gehen solle, als sie Pferdegetrappel näherkommen hörten. Eilig zogen sie die Verletzten mit sich ins Gebüsch.
Eine schwer bewaffnete Eskorte geleitete mehrere Wagen den Weg herunter und näherte sich ihrem Versteck. Als die Soldaten die vielen Leichen sahen, stoppten sie und sicherten ihren Wagentreck sofort nach allen Seiten. Ein vornehm gekleideter Herr rief aus einer prachtvollen Karosse: „Herr Hauptmann, was ist da los? Lass Er nachschauen!“
Christoph erhob sich und trat vorsichtig aus dem Gebüsch. Sofort hielt ihn ein Bewaffneter mit einer Lanze in Schach.
„Helft uns Herr! Wir sind Räubern in die Hände gefallen“, flehte er zu dem hohen Herrn hinüber.
„Was geht uns das an! Wir sind in Eile!“, damit drängte ein Offizier hoch zu Ross Christoph zur Seite. „Macht Platz und belästigt seine Exzellenz Bischof Johann Theodor von Bayern nicht länger.“
Auf einen Wink des Hauptmannes wollten die Soldaten Bartel zur Seite drängen, aber der fiel auf die Knie und bettelte laut schreiend: „Exzellenz, bitte …! Es wird bald dunkel. Wenn Ihr uns schon nicht mitnehmt, dann wenigstens die beiden Schwerverletzten, die brauchen einen Medikus, sonst sterben sie.“ Christoph zeigte auf die beiden Kaufleute, welche die Frauen aus dem Gebüsch herausschleiften.
„Hört Ihr schlecht! Macht Platz! Wir sind in einer sehr wichtigen Mission zum Fürstbischof unterwegs und werden noch heute Abend erwartet“, schrie ihn der Hauptmann an.
„Bitte! Eure Exzellenz, denkt doch an die Worte Jesu in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wir sind auch unter die Räuber gefallen und solltet Ihr nun nicht genauso handeln, wie es in der Bibel steht?“ Bartel war zwischen den Soldaten hindurchgeschlüpft und hatte sich vor der Kutsche abermals auf die Knie geworfen.
„Was fällt Euch ein, mich, einen Bischof der Kurie, an die Heilige Schrift zu erinnern. Überhaupt, was wisst Ihr davon, Ihr als einfacher Handwerker, könnt Ihr überhaupt lesen? Am Ende seid Ihr ein Ketzer bei Eurem Betragen“, echauffierte sich der Angesprochene.
Offensichtlich hatte aber der Hinweis auf die Bibel den Bischof nach kurzem Zögern umstimmen können.
„Also gut, wir nehmen Euch mit. Ladet die Verletzten auf!“, gab er den Befehl. „Zwei meiner Männer werden Euch helfen und der Marketenderwagen soll Euch aufnehmen. Aber beeilt Euch! Wir warten nicht!“ Der Reisezug setzte sich wieder in Bewegung.
Die verletzten Kaufleute wurden auf den letzten Wagen gebettet und gegen ein kleines Trinkgeld waren die beiden Soldaten sogar bereit, die Truhen der Bartels zu holen und aufzuladen.
Mittlerweile dämmerte es bereits und in rasanter Fahrt hetzten sie den Vorausfahrenden hinterher. Kurz vor dem Stadttor holten sie den Tross ein, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tore geschlossen wurden.
Der Wagen hielt neben einem stattlichen Anwesen, dem Gasthaus Zum Roten Ochsen.
„Hier könnt Ihr bleiben“, meinte einer der Soldaten und half bereits den beiden Frauen vom Wagen. Auch der Wirt war mit ein paar seiner Knechte eifrig zur Stelle, als er das Bischofswappen auf dem Wagen erkannte.
„Die zwei Verletzten bringen wir ins Spital.“ Mit einem kurzen Gruß verabschiedeten sich die Soldaten und fuhren weiter.
Anna Maria schaltete, bevor der Wirt es sich anders überlegen konnte: „Ein schönes Zimmer für meinen Mann und mich und eine Kammer für unsere Magd.“
In der Zwischenzeit hatten sich die beiden Frauen darauf geeinigt, dass Elisabeth als Magd für Kost und Logis mit den Bartels reisen würde.
Christoph zählte dem Wirt die ausgehandelte Summe in die Hand und erkundigte sich: „Wir sind auf dem Weg nach Bremen, dort will ich mich in Diensten der Hadson Companie nach Amerika einschiffen. Wir möchten uns gerne einem Handelszug in Richtung Norden anschließen. Könnt Ihr uns da weiter helfen?“
„Oh, da habt Ihr aber Pech. Alle Reisegruppen in diese Richtung sind in den letzten Tagen aufgebrochen. Da wären nur noch ein paar aus Schwäbisch Hall, die mit einer Ladung Salz nach Leipzig wollen. Ich mach Euch später bekannt.“ Damit verließ der Wirt das geräumige Zimmer, das er den Bartels vermietet hatte.
„Gerne könnt Ihr Euch uns anschließen, Meister Bartel. Von Leipzig aus kommt Ihr in gut zwei Tagen nach Torgau an die Elbe. Von dort könntet Ihr ein Schiff nehmen, das Euch den Fluss abwärts bis Hamburg bringt. Es ist der schnellste und sicherste Weg.“
Froh nahm Christoph das Angebot des Handelsherrn an.
Auch der Wirt riet ihm dazu: „Schließt Euch dem schwerbewaffneten Treck der Schwäbisch Haller an. Man weiß nie, wann sich wieder so eine günstige Gelegenheit ergibt.“
Nachdem der Zug erst in zwei Tagen aufbrechen wollte, hatte der Meister Zeit und Muße, sich die Bischofsstadt genauer anzusehen. Am Nachmittag stand er am Prachttor vor dem Bamberger Dom und betrachtete erstaunt eine aus Sandstein gehauene Figur. Die bildhübsche Jungfrau hatte einen zerbrochenen Stab in der rechten Hand und zehn Ziegel in der linken. Ihre Augen waren mit einem Tuch verbunden. Seltsam, dachte er und schüttelte den Kopf.
„Werter Herr, Ihr seid nicht von hier - oder?“, fragte ihn ein kleines spindeldürres Männchen, das ihn schon seit einiger Zeit beobachtete. „Kennt Ihr die Geschichte?“
Bartel schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an.
„Man nennt die Figur die blinde Jungfrau, oder auch die blinde Gerechtigkeit und erzählt sich Folgendes: Eine Jungfrau wurde einst der Unzucht beschuldigt, sie beteuerte aber immer wieder ihre Unschuld. Vergebens – trotz ihres Flehens wurde sie gefoltert und schon halbtot erst vor den Dom und dann zum alten Schloss vors Gericht geschleppt. Verzweifelt bettelte sie zum Himmel: Der Mensch hat kein Erbarmen mit meiner Unschuld, ihr Ziegel auf dem Dache habt´s noch eher, so erbarmt ihr euch meiner! Kaum hatte sie das gerufen, fielen zehn Ziegel vom Dach und schlugen sie tot. Volk und Richter nahmen es als Himmelszeichen ihrer Unschuld. Seitdem mahnt das steinerne Bildnis der Jungfrau hier. Allerdings vergaß der Bildhauer die Augenbinde, die das blinde Urteil bedeuten soll. Darum verbindet man ihr nun die Augen mit einem Tuch ,und immer, wenn der Stoff verfault herabfällt, soll die Jungfrau um Mitternacht auf dem Domplatz auf- und niederschweben.
Einige Wachposten, die sie gesehen haben wollen, hatten nicht den Mut, sie anzurufen. Es heißt, sie pocht solange an die Wohnungen der Domherren und schwebt hier herum, bis sie wieder eine frische Augenbinde bekommt.“
Kopfschüttelnd über so viel Dummheit und Herzlosigkeit meinte der Meister: