Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Jötunheim


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nur ein Stumpf. Thea erkannte ihn wieder. Es war Tyr, Kriegsgott und Beschützer der Thing-Versammlung. Er löste sich aus seiner Position. Die blauen Augen hinter seinem Brillenhelm musterten Tom verdutzt.

      „Juli hat sich sehr verändert“, kommentierte er trocken.

      „Planänderung“, erwiderte Wal-Freya einsilbig. „Wir müssen nach Wallhall. Der Junge fährt mit!“

      Sie sprang auf den Wagen und hob das Kinn auffordernd in Theas Richtung. Das warnende Knurren der Wölfe ließ Thea jedoch zögern.

      „Psst! Das sind Freunde, Hugrakkir!“, erwiderte Tyr. Der schwarze Wolf schaute zurück, stand auf und wedelte verhalten mit dem Schwanz.

      „Hallo Tyr“, grüßte Thea verzagt.

      „Ich freue mich, Thea“, erwiderte der Kriegsgott. Seine Lippen umspielte ein Lächeln.

      „Sind das deine Wölfe?“, fragte sie.

      Tyr wog den Kopf. „Deine“, wiederholte er abwägend. „Sie sind ebenso wenig meine, wie ich der ihre bin. Wir sind Gefährten. Der schwarze ist Hugrakkir, der weiße Vinur.“

      Thea erhob die Hand zu einem Gruß. „Hallo Hugrakkir und Vinur.“

      Tyr lachte. Er trat vor die beiden Tiere und ging in die Knie. Als diese ihn mit Kopf und Pfote anstießen, wuschelte er ihnen das Fell.

      „Wallhall? Wozu?“, fragte Tyr währenddessen und sah zu Wal-Freya, die die Zügel bereits in der Hand hatte.

      „Tom glaubt, Fenrir sei nach Hause gelaufen …“

      „Nach Wallhall?“ Tyr lachte. „Du bist von Sinnen, Wal-Freya!“

      Die Walküre blickte finster. „Nicht nach Wallhall! Zu Angrboda, seiner Mutter. Wir müssen das mit Odin besprechen. Tom könnte recht haben.“

      Tyr stand auf. „Und die Spur?“

      „Vielleicht eine falsche Fährte!“, antwortete Tom.

      Der Kriegsgott stieß einen abschätzenden Laut aus und betrachtete Tom mit einer Mischung aus Skepsis und Zustimmung.

      „Zumindest würde es erklären, warum wir sie so plötzlich verloren haben“, erwiderte Wal-Freya und nahm die Zügel in die Hand.

      Tyr seufzte tief. „Wer sollte dazu fähig sein?“ Kaum hatte er die Frage gestellt, weiteten sich seine Augen. „Nein! Unmöglich!“

      Die Walküre winkte Thea ungeduldig heran. „Das Wort ,unmöglich‘ in den Mund zu nehmen und dabei gleichzeitig an Loki zu denken, ist ein Widerspruch, Tyr!“

      Zögernd trat Thea an Wal-Freya heran, ohne dabei die beiden Wölfe aus den Augen zu lassen. Das Knurren der Tiere weckte Theas Argwohn. Aber sie schenkten ihr keine Beachtung mehr.

      „Ich kann dieser Art zu reisen noch immer nichts abgewinnen“, verkündete sie, als sie auf dem Wagen hinter der Wanin stand.

      „Es ist völlig ungefährlich“, versicherte Wal-Freya.

      „Das wird an dem Gefühl trotzdem nichts ändern“, erwiderte Thea, umklammerte Wal-Freyas Taille und presste ihr Gesicht in deren Umhang.

      „Ich fühle mich an Niflheim erinnert“, raunte die Walküre und tätschelte sanft Theas Hände.

      Tom deutete staunend auf die Gespanne. „Wir fahren damit nach Asgard? Ich dachte, das liegt in den Wolken!“

      „Du wirst dich noch wundern!“, prophezeite Thea. „Mach dich auf etwas gefasst! Es ist abartig!“

      „Vielleicht lasse ich dich irgendwann einmal selbst fahren, dann wirst du sehen, dass gar nichts dabei ist“, versuchte Wal-Freya Thea aufzumuntern. Sie lachte und gab Bygul und Trjegul den Befehl, loszufahren.

      Begleitet von einem Ruck sprangen die Katzen voran. Thea spürte das unangenehme Ziehen in ihrem Magen und packte Wal-Freya fester, worauf sich die Stimme der Walküre in ihrem Geist bemerkbar machte. „Vergiss bitte nicht, dass auch ich atme“, scherzte sie.

      „Entschuldige!“, antwortete Thea und lockerte den Griff.

      „Schau dich um, es ist nichts dabei“, forderte Wal-Freya sie auf.

      „Ich hab das schon gesehen“, erwiderte Thea und kniff die Augen sogar noch fester zu. Alleine der Gedanke daran, die sich entfernende Erde zu beobachten, trieb ihr einen Schauer über den Rücken.

      Wal-Freya lachte. „Du musst vergessen haben, wie schön es ist, die Welt von oben zu sehen. Los Bygul und Trjegul! Ihr wisst, dass Tyr schneller ist als wir!“

      Thea hob ein Augenlid und öffnete rasch das zweite, als sie das Nordlicht vor dem schwindenden Nachthimmel entdeckte. Freude überkam sie. Es schien so lange her, dass sie die Winternächte mit diesem Anblick verbracht hatte. Nein! Es war lange her. Um genauer zu sein, viele Jahrhunderte. Wehmut überkam sie. Das Nordlicht mit all seinem Zauber und seiner Schönheit war stets ein Teil in ihrem Leben als Fengur gewesen. Das Zusammenspiel der grünen und roten Farben vor dem schwarzen Hintergrund zog sie in eine ferne Zeit, weckte Erinnerungen an längst vergangene Freunde und an eine Familie, die einst ihre eigene gewesen war. Was mochte aus ihnen geworden sein? Aus Geirunn, Fengurs Frau. Der Schmied hatte sie sein ganzes Leben lang vergöttert. Stolz war er auf seinen Sohn Hakon gewesen, der ihm später in der Schmiede half. Und da war noch Amma gewesen, seine kleine Tochter, die zu einer mutigen und tüchtigen Frau herangewachsen war. Enkel, die er liebte wie seine eigenen Kinder …

      „Tu es nicht, Thea“, mahnte Wal-Freya und Thea, wie aus einem Traum von ihren Erinnerungen fortgezerrt, gab einen verblüfften Laut von sich.

      „Ich spüre deine Traurigkeit! Sie ist alt. Sehr alt! Wir gaben dir die Erinnerungen an deine Leben zurück, damit du in den Kämpfen, die vor dir liegen, bestehen kannst, nicht, um dich mit Kummer zu strafen!“

      Thea hob den Blick. Fengur kannte sich als Schmied in Waffentechnik aus. Bevor er seine Schwerter verkaufte, führte er sie erst selbst. Njal, der Mann, der sie in ihrem zweiten Leben war und den ihr die Nornen ebenfalls gezeigt hatten, war ein Kämpfer, der seinesgleichen suchte. Er hatte sein Können in vielen Schlachten bewiesen. Um ihr all diese Befähigungen in ihrem jetzigen Leben zu geben, war es unabdinglich gewesen, ihr die alten Erinnerungen zu zeigen, die ihr als Thea allenfalls in ihren Träumen gehören würden. Sie ermöglichten ihr, das Schwert zu führen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Aber sie belasteten ihren Geist mit Sehnsucht und Traurigkeit, wenn sie an das, was sie verloren hatte, zurückdachte.

      „Nur auf deine Fähigkeiten darfst du dich konzentrieren! Denke keinesfalls an die Menschen, die nicht mehr bei dir sind. Sie kehren nicht zurück! Du bist jetzt Thea, du hast eine neue Familie. Lass nicht zu, dass der Verlust der Vergangenheit dein Herz beschwert!“, mahnte Wal-Freya.

      „Woher weißt du?“, fragte Thea verblüfft.

      „Wir sind durch das Brisingamen miteinander verbunden“, erinnerte die Walküre. „Ich spüre deine Traurigkeit. Sie ist alt und schwer.“

      Thea fuhr mit der Hand über das Amulett an ihrem Hals. Sie trug es nun viele Monate und bis vor ein paar Stunden hatte sie fast vergessen, wie mächtig es war. Das Amulett war ein Teil Brisingamens, einer Halskette, die einst Schwarzalben fertigten. Wal-Freya hatte die Kette stets vor neugierigen Blicken verborgen. Kein Mensch hatte das Brisingamen je erblickt, außer Thea. Nicht genug davon, hatte Wal-Freya ihr sogar ein Stück dieses magischen Gegenstands anvertraut. Brisingamen war ein Geflecht aus kleinen Amuletten, die mit verschiedenen Symbolen und Runen verziert waren. Theas Amulett zeigte drei Monde, die sich ineinander verflochten und die von einem Ring aus Knotenmustern umschlossen wurden.

      „Geirunn … Wo ist sie?“, nahm Thea das Gespräch wieder auf.

      „Nicht in Sessrumnir“, erwiderte Wal-Freya. „Sicher wirst du eines Tages die Antwort darauf finden. Aber nicht heute – und nicht morgen.“ Sie schnalzte mit der Zunge und rief den Katzen zu: „Schneller