Mark Lanvall

Lichtsturm


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vor ihm zum Stehen. Ben ignorierte die wüsten Beschimpfungen des Fahrers und erreichte mit einem letzten großen Schritt den sicheren Gehsteig. „Ja also, geht's noch?“, empörte sich dort eine mit Einkaufstüten beladene Frau.

      Erst jetzt nahm sich Ben die Zeit, nach seinen Verfolgern zu sehen. Die gute Nachricht war: Keiner von ihnen hatte sich auf die Straße gewagt. Die schlechte: Die vier Schläger hatten trotzdem nicht vor, ihn ziehen zu lassen. Einer starrte ihn hasserfüllt an, die anderen scannten mit nervös hin- und herwandernden Pupillen nach einer Lücke im steten Fluss der blechernen Feierabend-Heimkehrer.

      Ben hatte nicht vor, die nächste Rot-Phase abzuwarten. Er rannte weiter. Nach zwei Blöcken bog er rechts in eine deutlich schmalere Straße, die in erster Linie zum Tiefgarageneingang eines Vier-Sterne-Stadthotels führte. Ben spielte mit dem Gedanken, sich in der Garage zu verstecken. Aber nein. Sollten die vier nicht darauf hereinfallen, saß er dort möglicherweise in der Falle. Und weit und breit war niemand, der ihm gegen die vier überirdisch motivierten Schläger hätte helfen können. Ben hatte es in Karate zwar vor Jahren bis zum grünen Gürtel gebracht. Bisher hatte er aber noch nie Gelegenheit gehabt auszuprobieren, ob er deshalb ähnlich unbesiegbar war wie die Helden im Fernsehen. Wohl eher nicht, sagte ihm der weniger draufgängerische Teil seines Verstandes. Er ließ die Garageneinfahrt links liegen und lief stattdessen weiter geradeaus die Straße entlang. Ohne echtes Ziel und ohne allzu große Hoffnung, Zöllners Schlägern zu entkommen. Denn allmählich ging ihm die Puste aus. Verdammt. Er war keine 25 mehr. Dazu kam, dass sich mit jedem Schritt seine Knöchel-Verletzung am linken Fuß zurückmeldete. Vor acht Jahren hatte Ben auf dem Weg in die U-Bahn eine Treppenstufe übersehen und war derart unglücklich umgeknickt, dass zwei Sehnen gerissen waren. Auch zwei Operationen später war es nicht mehr so wie vorher. Ben hatte immer wieder Schmerzen, sobald er den Fuß über einen Spaziergang hinaus belastete. Andere verletzten sich wenigstens beim Sport, auf schwarzen Pisten oder beim Zweikampf mit dem gegnerischen Stürmer. Ben passierte es beim Herabsteigen einer Treppe. Wie banal! Wie typisch für sein Leben!

      Nicht darüber nachdenken, Ben! Er erlaubte sich einen Moment lang, das Tempo zurückzunehmen und über die Schulter zu schauen. Die vier Schläger bogen gerade in die Straße ein - ohne zu zögern und ohne Anzeichen von Erschöpfung. Das waren nicht irgendwelche Jungs aus dem Pool der Ochdoi-Zombies. Die Kerle wussten, was sie taten. Ben fragte sich, ob die vier überhaupt an Zöllners Außerirdischen-Kram glaubten, oder vielleicht auch nur an das Geld, dass er ihnen zahlte.

      So oder so: Ben brauchte einen Plan B, wenn er aus der Sache heil herauskommen wollte. Denk nach! Ein bestimmt zweieinhalb Meter hoher Holzzaun trennte eine kleine Parkanlage von der Straße ab. Ben erinnerte sich. Bis vor Kurzem hatten Junkies die Anlage nach Einbruch der Dunkelheit für ihre Flucht aus der Realität genutzt. Mit der Folge, dass in Büschen und im Sand des kleinen Spielplatzes immer mal wieder alte Spritzen gefunden wurden. Die Münchner Ordnungsbehörden ließen die Anlage daraufhin umzäunen und jeden Abend absperren. Auch jetzt war sie verschlossen.

      Ben hatte eine Idee. Es war eigentlich mehr ein Szenario, das sich in seinen Adrenalin-durchfluteten Gehirnwindungen manifestierte und diesmal den vernünftigen Teil völlig unterdrückte. Aber für Zweifel war es jetzt ohnehin zu spät. Ben öffnete die Schnalle seines Gürtels und zog ihn aus den Schlaufen. Mit der Linken griff er sich im Vorbeirennen einen gelben, schmutzigen Plastikhocker. Er stand unter der Ladefläche eines Kleinlasters und war dort nach dem Ausladen vergessen worden - oder aber niemand rechnete ernsthaft damit, dass er gestohlen werden könnte. Für Ben war er genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Er stellte den Hocker dicht an den Zaun heran und ging in die Knie. Im Augenwinkel sah er die vier Schläger, die sich ihm gefährlich schnell näherten. Von unten zog Ben den Gürtel durch ein in die Trittfläche gestanztes Loch unterhalb des Plastikgriffes - so lange, bis sich die Schnalle dort fest verhakte. Sehr gut! Jetzt sprang Ben auf den Hocker und band sich das andere Ende des Gürtels um den linken Fuß. Er kam nun mühelos mit den Händen an die Oberseite des Zaunes. Ben packte zu und zog sich stöhnend hoch. Spreißel und Kanten schnitten in seine Finger. Trotzdem gelang es ihm, das rechte Bein über den Zaun zu bringen. Keuchen, Schritte, drangen an sein Ohr. Er hatte keine Zeit mehr. Ben kam sich wie ein Stück Wäsche vor, das jemand zum Trocknen über den Zaun geworfen hatte. Alle möglichen Stellen seines Körpers taten ihm weh, aber immerhin lag er stabil. Stabil genug, um das andere Bein mitsamt dem Hocker nach oben zu ziehen. Er packte ihn und warf ihn auf die andere Seite des Zauns. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment griffen kräftige Hände nach ihm. Sie griffen ins Leere, denn Ben kippte bereits dem Hocker hinterher.

      Er landete mit viel Glück auf beiden Beinen. Trotzdem war der stechende Schmerz, der dabei durch seinen angeschlagenen Fuß fuhr, betäubend. Zorn wallte in ihm auf. Verdammt! Was sollte das alles? Warum ließen ihn diese Dumpfbacken nicht einfach in Ruhe? Zu gerne hätte Ben die vier nach allen Regeln der Karate-Kunst vermöbelt. Einfach so. Wie die Helden im Fernsehen. Kein guter Gedanke, denn in der Realität nahmen solche Versuche leider kein schönes Ende. Und außerdem: Der Trick mit dem Hocker war doch auch nicht schlecht, wenn er es sich recht überlegte. Immerhin hatte er seine Verfolger abgehängt. Jedenfalls bis auf Weiteres.

      Ben klemmte sich den Hocker unter den Arm und humpelte so schnell es ging los, so lange, bis ihm Dickicht und Dämmerung Schutz boten. Auch wenn es die vier über den Zaun schaffen sollten, würden sie Mühe haben, ihn zu finden. Ben schöpfte Hoffnung. Er holte sein Handy aus der Jacke und drückte die Wahltaste.

      Maus war nach dem ersten Freizeichen dran. „Mann, Alter. Wo steckst du? Viktoria wollte schon nach Hause, um eine Kerze für dich anzuzünden. Frag besser nicht, wen oder was sie damit beschwören will.“

      „Halt die Klappe und hör zu!“, zischte Ben ein wenig zu scharf. Dann sagte er ihm, wo er ihn mit dem Auto abholen sollte.

      „Jawohl! Liix hat zugeschlagen!“, jubelte Maus und streckte die rechte Faust in die Höhe. Mit der linken griff er zeitgleich in eine Tüte Currywurst-Chips.

      Ben stöhnte und schlug sich die Hand auf die Stirn - und zwar nicht nur, weil ihm der Knöchel noch immer höllisch wehtat. Er saß auf einem speckigen, ausgefransten Sessel in der Zweizimmerwohnung von Maus. Sein Fuß lag auf einem Holzschemel, den Viktoria vorher mit zwei Kühlakkus „gepolstert“ hatte.

      „Technisch gesehen war die Operation Rosswell ein voller Erfolg“, kicherte Viktoria. „Wir haben uns nach allen Regeln der Kunst in sein Notebook gehackt, die Mov-Datei ausgetauscht und zum richtigen Zeitpunkt gestartet. Und sogar die Videos, die ihr gedreht habt, sind ziemlich brauchbar.“

      „Na also“, quittierte Maus mit vollem Mund. Currywurst-Chips-Brösel kullerten auf den braun-beige-gestreiften Teppich, der vor 30 Jahren einmal modern und damals vermutlich auch noch sauber gewesen war. „Alles hat doch astrein geklappt. Wie im Film, Alter. Liix hat zugeschlagen!“ Wieder reckte er die Faust nach oben.“

      „Liix wäre beinahe gründlich vermöbelt worden“, entgegnete Ben mürrisch. „Zumindest der Teil von Liix, der so aussieht wie ich.“ Er wäre gerne laut geworden, fühlte sich dazu aber zu schwach. Und der Schreck saß ihm noch immer in den Knochen. Verdammt! Hätte sich Maus nur einen Ticken unauffälliger benommen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen.

      „Deine Flucht war aber irre, Ben“, murmelte Viktoria und rückte, ohne von ihrem Notebook aufzusehen, ihre altmodische Hornbrille zurecht. „Sieht gut aus, was du mit deiner Kamera aufgenommen hast. Macht sich bestimmt gut bei YouTube.“

      „Viktoria, ich ...“ Ben brach den Satz mit einem Seufzen ab. Es hatte keinen Sinn. Die beiden würden den Ernst der Lage ohnehin nicht verstehen. Für sie war das Leben wie ein ausgedehntes und überaus realistisches Internet-Rollenspiel. Und Ben Hartzberg gehörte zum Team und spielte mit bis zum … Game Over. Und warum das alles? Auf diese Frage konnte sich Ben nicht einmal selbst eine vernünftige Antwort geben. Und falls es ihm doch eines Tages gelingen sollte, würde sie ihm sicher nicht gefallen.

      Ben hatte die beiden vor zwei Jahren auf einer Games Convention in Freimann, im Münchner Norden, kennengelernt. Damals hatte er für 15 Cent pro Zeile Berichte aus den Stadtteilen für ein Anzeigenblatt geschrieben. Der Job war einer von vielen gescheiterten Versuchen, seiner verkorksten