Mark Lanvall

Lichtsturm


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bis zum Fenster sollte er es schaffen. Kellen hangelte sich am Bett entlang und erreichte stöhnend das Fenstersims. Sein „Ausflug“ hatte seine letzten Kraftreserven nahezu aufgezehrt, und der Druck in seiner Brust nahm zu. Er kniff die Augen zusammen und blickte hinaus in eine grelle, aber gewaltige Bergwelt. Scharfkantige Gipfel stachen in den Himmel. Bäume, Felsen und breite Schneefelder verbanden sich zu bizarren Formen. Kellen glaubte, die Umrisse eines Pferdes zu erkennen. Und da: Dort war eindeutig das Gesicht eines Kindes.

      Kellen rieb sich die Augen. Was tat er da? Er befand sich in einem fremden Zimmer mitten in den Großen Bergen. Und das, was er sah, waren verrückte Fantasiebilder. Aber wie schön sie waren! Vielleicht drängten sie ja deshalb so sehr in sein Bewusstsein, weil der Anblick der Berge sonst zu gewaltig und zu überwältigend war. Kellen hatte immer davon geträumt, diese Riesen einmal aus der Nähe zu sehen. Und nun übertraf es all seine Erwartungen. Er kam sich klein und verletzlich vor angesichts dieser Mächtigkeit und Erhabenheit. So etwas konnten wahrhaftig nur die Götter geschaffen haben.

      Aber wo genau war er? Und wer hatte ihm das Leben gerettet und ihn hierher gebracht? Warum war er in diesem Zimmer, in dem sich jeder Fürst mehr als wohl gefühlt hätte?

      Erst jetzt wanderte Kellens Blick hinab von den Bergen auf einen großen, mit hellen Steinen gepflasterten Platz. Sein Zimmer musste weit über dem Boden liegen. So hoch, dass Kellen einen Sprung aus dem Fenster nicht überleben würde. Der Platz erstreckte sich über eine Fläche, die bestimmt 100 Pferdelängen durchmaß. Auf der anderen Seite stand ein riesiges Gebäude, das so groß war, dass Kellen das rechte und linke Ende von hier aus nicht erkennen konnte. Und es war unglaublich hoch. Kellen zählte acht Stockwerke. In jedem reihten sich unzählige bienenwabenförmige Erker aneinander, die aus einer schneeweißen, glatten Wand herausragten. Aus einem der vielen Fenster sah eine Gestalt mit langen blonden Haaren hinaus. Kellen vermutete, dass es eine junge Frau war. Genau konnte er das aus der Entfernung aber nicht erkennen.

      Offenbar befand sich sein Zimmer sehr weit oben in einem ähnlich großen Gebäude - oder sogar in dem gleichen. Der Häuptling nahm an, dass es den ganzen oder zumindest einen Großteil des Platzes umgab. So etwas Gewaltiges konnte nicht das Werk von Menschen sein!

      Überwältigt und verwirrt stieß er sich vom Fenstersims ab, taumelte zurück zu seinem Bett und ließ sich auf das weiche Lager fallen. Er zog die Decke hoch bis zum Kinn. Kellen zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Nur allmählich breitet sich die Bettwärme in seinen Gliedern aus und das Zittern ließ nach. Der Häuptling atmete tief ein und gestattete seinem Körper, sich zu entspannen.

      In seinem Kopf allerdings wüteten die Gedanken wie ein wilder Sturm. Wie starke Böen zerrten die Fragen an ihm, forderten energisch von ihm, die Antworten zu finden. Sein Verstand aber mahnte ihn zur Geduld. Er war zu schwach noch einmal aufzustehen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass er in Sicherheit war. Kellen schlief ein.

      Ob er schon wach war? Larinil versuchte sich vorzustellen, wie es für einen Menschen sein musste, in diesem Zimmer, in dieser Burg wach zu werden. War es beängstigend? War es wie ein schöner Traum, aus dem er nicht erwachen wollte? War ihm kalt? Sie wusste, dass Menschen sehr leicht froren und dass sie sich nicht anders vor der Kälte schützen konnten als durch Decken oder dicke Kleider - meist gefertigt aus den Fellen von Tieren. In ihren Hütten zündeten sie stinkende Feuer an, deren Rauch nur durch die Ritze in den schlecht gebauten Decken abziehen konnte.

      Die Kaijadan-Meisterin seufzte. Wie verletzlich diese Geschöpfe waren.

      Vorsichtig öffnete sie die Tür und späte hinein. Er schlief noch immer. Aber nein. Er musste zwischendurch wach gewesen sein. Larinil sah, dass der Becher benutzt worden war. Gut, dann hatte er also schon Gelegenheit gehabt, seine neue Umgebung kennenzulernen.

      Larinil zog einen kleinen Schemel aus der Ecke des Zimmers an Kellens Bett heran und nahm darauf Platz. Dann schlug sie die Decke ein Stück zurück und legte beide Hände auf seine Brust. Sie schloss die Augen. Nein, er war noch nicht so weit. So zerstörerisch war das feindliche Schwert gewesen. Zwei Rippen und ein Teil der Lunge waren getroffen. Der Mensch hatte Glück, überhaupt noch da zu sein. Ohne ihre Kraft wäre er vergangen.

      „Iniai jal'Nerviy, hunuma ni Larei“, flüsterte sie. „Licht des Lebens. Entfessle deine Kraft!“

      Dicke unsichtbare Zungen drangen von Larinils Handflächen aus in Kellens Körper, breiteten sich aus, entfernten, was nicht da sein sollte, und heilten, was noch immer verwundet war. Ihr Werk war nahezu getan. Nun sollte der Mensch von alleine wieder zu Kräften kommen.

      Kellen fuhr hoch - schwitzend, mit geweiteten Augen. Auch die Göttin erschrak und zog ihre Hände zurück. Hatte sie ihn berührt? Was war geschehen? Er sah ihr in die Augen. Wie zwei kostbare Edelsteine funkelten sie aus einem ebenmäßigen, zarten Gesicht: Hellblau, glasklar, wunderschön. Kellen konnte einen Moment lang nichts weiter tun, als sie anzusehen: Eine Göttin, kein Zweifel, von übermenschlicher Schönheit. Ihre braunen Haare fielen wie die Bahnen eines besonders leichten Stoffes auf ihre Schultern hinab. Aber da war noch etwas: Die Göttin hatte lange, elegant geformte Ohren, deren Spitzen zwischen den Haaren hervorstachen.

      „Bei den Göttern!“, entfuhr es ihm.

      Die Göttin lächelte und zog dabei amüsiert die Augenbrauen hoch. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und sah ihn prüfend an.

      Kellen wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte es überhaupt einen Sinn, etwas zu sagen? Würde sie ihn verstehen? Er erinnerte sich an die wohlklingenden Worte, die er gehört hatte, nachdem ihm ein Schwert durch den Leib gerammt worden war. Er hatte diese fremde Sprache nie gehört. Dennoch stellte er die Frage, die ihn beschäftigte, seit er hier war. „Wo bin ich?“

      „In einer Burg in den Bergen, die wir Galandwyn nennen, die Zuflucht. Du bist hier sicher.“

      Ihre Stimme war weich und ruhig. Sie sprach seine Sprache so gut, als wäre es ihre eigene. Allerdings klangen einige Laute bei weitem nicht so hart wie bei ihm und bei anderen seines Volkes.

      „Fühlst du dich besser?“

      Kellen nickte. Es ging ihm tatsächlich viel besser. Der Druck in seiner Brust war verschwunden, ebenso wie der Schwindel. Kellen fühlte sich gesund und ausgeruht. Dabei hätte er tot sein müssen.

      Wieder starrte er in das wunderschöne Gesicht der Göttin. Der Häuptling konnte nicht anders. Ihre Haut war hell, rein und glatt. Kein Bildhauer könnte so etwas Vollkommenes schaffen. Sie sah jung aus. Aber sie strahlte die Weisheit und Selbstsicherheit einer Königin aus. Oder die einer Göttin.

      Kellen war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Die einfachen Leute fielen manchmal vor den Fürsten auf die Knie, um zu zeigen, dass sie ihre Macht anerkannten. Aber das hatte er nie getan und es kam ihm auch jetzt falsch vor. Ebenso falsch allerdings, wie die Göttin unentwegt wortlos anzustarren.

      „Du redest nicht viel, Häuptling Kellen.“ Die Göttin lächelte wieder. Es war ein ermutigendes Lächeln, wenn auch ein wenig spöttisch. „Ich vermute, es liegt daran, dass du die vielen Fragen in deinem Kopf zuerst in die richtige Reihenfolge bringen willst. Das ist klug. Der Weise reist mit seinem Boot auf den Wogen eines Baches, der Dumme nimmt den Wasserfall.“

      Kellen sah sie überrascht an. So also redeten die Götter? Er fragte sich, ob das die Druiden wussten, die in oft wirren Worten über den Willen der Götter faselten. Kellen vermutete, dass sie absichtlich so wirr sprachen, um deutlich zu machen, dass nur sie allein es waren, die den Willen der Götter deuten konnten. Das war eine Frage von Macht.

      Kellen räusperte sich. „Verzeiht mir!“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Aber ich bin verwirrt. Es ist so vieles passiert. Und ich bin mir nicht sicher, was davon echt ist und was nicht.“

      Die Göttin setzte sich wieder. Ihre Bewegungen waren fließend wie die einer Tänzerin und auch wenn es nur ein einfacher Hocker war: Sie saß darauf so stolz und aufrecht wie auf einem Thron. Sie trug ein seltsames Gewand aus einem leichten, grünen Stoff. Von Schultern und Taille fiel er in großen Fransen hinab, die in leicht variierenden Grüntönen gefärbt waren. Aus der Nähe betrachtet sah dieses Kleid nach einem hoffnungslosen Durcheinander