Matthias Krügel

Typ 1


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wieder abstoßen.

      Dr. Bachmann nimmt seine Lesebrille ab und schaut seine Patientin eindringlich an, die Stirn in Falten gelegt. „Auch wenn ich mich wiederhole – aber es muss Ihnen klar sein, dass dies nicht lange gut gehen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Immunsuppressivum zu Nebenwirkungen führen wird, die Sie beim Insulin nicht hätten. Und ob der Kampf gewonnen wird oder Ihr Immunsystem auch die neuen Zellen trotzdem wieder vernichten wird, ist offen.“

      Diesen Text hört Franziska Vaillant nicht zum ersten Mal von ihrem Arzt. Und er wiederholt ihn nicht für sie. Sie mustert ihn. Er wiederholt ihn für sich. Er merkt, dass bei ihr etwas anders läuft. Dass es nicht so läuft, wie er es gewohnt ist. Doch das will er sich nicht eingestehen. Noch nicht. Solange er es nicht zugibt, spielt sie das Spiel mit. Und so schaut sie wie ein zurechtgewiesenes kleines Mädchen schuldbewusst auf ihre Hände, die in ihrem Schoß liegen. „Ja, Herr Dr. Bachmann, das ist mir bekannt.“

      Zufrieden lehnt er sich zurück in seinem Stuhl und fragt: „Wie kommen Sie mit Ihrer Forschung voran? Machen Sie Fortschritte?“

      Sie nickt ein wenig, sagt aber nichts.

      „Machen Sie sich nichts vor. Glauben Sie, mit Ihren bescheidenen Mitteln am … Wie heißt es noch? Fifi?“

      „IfiH, Dr. Bachmann, das Institut für innovative Heilmethoden.“

      „Ja, am IfiH, glauben Sie, da können Sie etwas Entscheidendes bewegen? Etwas, auf das die größten Forscher und Labore der Welt noch nicht gekommen sind? Quälen Sie sich doch nicht so und finden Sie sich damit ab, dass sich an der Situation für Diabetiker auf lange Jahre nichts ändern wird.“

      Franziska Vaillant hält sich an die Kleines-Mädchen-Rolle, denkt aber etwas anderes. Himmel, wie kann man so eine Arroganz und Ignoranz an den Tag legen? Ist das sein Schutzschild? Ihr Erfolg wäre für ihn eine Katastrophe. Nicht nur für seine Überzeugungen. Einen neuen Job könnte er sich zusätzlich suchen. Stattdessen stellt er ihren Arbeitsplatz infrage.

      „Und die Inhaberin dieses Instituts, diese Deutsch-Engländerin Summers, da ist doch bald das Erbe aufgebraucht, das alles kann die sich nicht mehr lange leisten. Oder hat sie jemanden gefunden, der ihr den ganzen Unfug bezahlt? Und Ihr Gehalt gleich mit?“

      Das Institut ist tatsächlich nicht das größte. Doch für Franziska Vaillants Zwecke reicht es. Und um ihr Gehalt macht sie sich ebenfalls keine Sorgen, während Dr. Bachmann weiter philosophiert.

      „Mit der alternativen Medizin kann man den Menschen schön etwas einreden und eine Menge Geld machen. Aber die Fakten in Bezug auf Diabetes lassen sich damit niemals aus der Welt schaffen.“

      „Innovative Medizin, nicht alternative. Wir bewegen uns zwischen der konservativen Schulmedizin und der alternativen Heilpraxis, nutzen die Erkenntnisse aus beidem.“

      „Das hört sich für mich an wie die Entdeckung der Welt zwischen Kugel und flacher Scheibe.“ Er lacht über seine Worte, als wäre es ein gelungener Witz. Franziska Vaillant findet ihn nicht lustig und schweigt. Nach einer bedeutungsvollen Pause erhebt sich Dr. Bachmann. „Frau Vaillant, leider muss ich Sie jetzt verabschieden. Sie sehen ja …“ mit einer ausholenden Handbewegung deutet er über seinen Schreibtisch. „Und draußen wartet ein neuer Patient.“

      Franziska Vaillant erhebt sich von ihrem Platz, verabschiedet sich, verlässt den Raum und das Gebäude. Mit ihrem grünen Audi hat sie es nicht weit in den Vorort von Darmstadt, zu ihrer Drei-Zimmer-Eigentumswohnung in einer netten, unauffälligen Wohnsiedlung. Zu Hause angekommen, begibt sie sich in ihre Küche, die nicht steril, aber aufgeräumt ist. An einer Wand stehen und hängen weiße Küchenschränke mit dunkelgrauen Türen. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich ein Kühlschrank sowie ein Küchentisch mit drei Stühlen, die Sitzflächen in Weiß mit dunkelgrauen Rückenlehnen.

      Von der Arbeitsplatte nimmt sie sich eine Flasche Apfelsaft mit extra hohem Zuckeranteil und trinkt einige Schlucke. Ohne die bremsende Wirkung durch Ballaststoffe oder Fette erreicht der Zucker zügig die Blutbahnen. Sie wartet ab, läuft hin und her, nimmt am Küchentisch Platz und bereitet die Blutzuckermessung vor. Mit einem Desinfektionstuch wischt sie über ihren Mittelfinger. Sie setzt die Stechhilfe an, die wie ein Kugelschreiber gestaltet ist, und für eine Millisekunde schießt die Lanzette schmerzfrei in ihre Fingerkuppe. Sie drückt um die Einstichstelle und wischt den ersten Blutstropfen ab. An den nächsten Tropfen hält sie ein Messgerät. Auf dem Display läuft ein Countdown von fünf auf null. Dann sieht sie den Wert.

      Zufrieden lächelnd lehnt sie sich auf dem Stuhl zurück. Perfekt. Sie nimmt eine Tablette aus der Verpackung des Immunsuppressivums, dreht sie zwischen Daumen und Zeigefinger. „Na, Du kleines Mistding? Du könntest an meinen Organen verdammt viel Schaden anrichten. Zum Glück brauche ich Dich nicht.“

      Sie schnippt das Medikament im hohen Bogen ins Waschbecken. Dann nimmt sie aus einer unbeschrifteten Packung eine andere weiße Tablette und schluckt sie herunter.

      Geht doch. Meint sie.

       1 Montag – Irgendwann im August

       1.1 Auf einem Hügel im Münsterland

      David Mertens sitzt auf einer der wenigen Anhöhen in der münsterländischen Landschaft. Sein Blick reicht kilometerweit nach Westen und Norden. Bis zu den Niederlanden sind es wenige Kilometer. Hinter ihm schließt sich ein Waldgebiet an. Vor ihm liegt die Kreisstadt Borken, von der von seinem Platz aus fast nichts zu sehen ist. Der Hügel ist nicht hoch und die Bäume des Ortes überragen die meisten Gebäude. Auf einer Freifläche vor ihm unterhalb des Hanges lassen ein paar Hundebesitzer ihren Vierbeinern freien Lauf. Ein paar Mountainbiker fahren über das überwiegend ebene Gelände. Die für heute gemeldeten 20 Grad entsprechen seinem Gefühl nach der örtlichen Realität, und er empfindet sie als angenehm. Die 30 Grad, die zum nächsten Wochenende erreicht werden sollen, sind ihm persönlich dagegen zu viel. Ein seichter, kaum hörbarer Windhauch lässt die Blätter der umliegenden Bäume rascheln. Bis auf dieses Geräusch und vereinzeltes Gebell der unten laufenden Hunde ist es still. Der Verkehrslärm der nicht weit entfernt liegenden Straßen wird durch den Wald gedämmt.

      Vor zwei Stunden hat David einen Anruf von seinem Freund Kevin Schulte erhalten und sich an diesem Ort mit ihm verabredet. Dieser hatte aus einer Telefonzelle angerufen und geheimnisvoll und wichtig getan. Das ist bei ihm nicht unüblich, aber dieses Mal setzte er mit der Art des Anrufes einen bei der Dosierung drauf. Also hat sich David ohne längere Überlegung auf die Verabredung eingelassen. Auch in der Hoffnung, dass sein Freund etwas deutlicher würde und es dieses Mal um etwas wirklich Wichtiges ging.

      Von der linken Seite, über einen Waldweg, kommt Kevin Schulte auf ihn zu. Sein schwankender, schwerfälliger Gang und der schlaksige Körper sind von weitem erkennbar. Er hebt die Hand zum Gruß und setzt sich neben David. Wäre der Himmel nicht bewölkt, hätten sie einen sommerlichen Sonnenuntergang. So bleibt ihnen der Blick auf eine Dämmerung mit rot bis rosa leuchtenden Wolken am Horizont. Zusammen schauen sie sich das ferne Schauspiel der Natur an. David wartet, bis Kevin Schulte von selbst anfängt zu reden.

      „Erinnerst Du Dich noch an die schönen Sonnenuntergänge auf unserer Hüttentour vor drei Jahren?“

      David dreht einen Birkenzweig zwischen den Fingern in den Erdboden. „Hmm, ja. Dieselbe Sonne, aber eine völlig andere Atmosphäre. Inklusive Alpenglühen. Dieses Jahr war ich schon alleine unterwegs.“

      Kevin Schulte nimmt wie sein Freund einen kleinen Zweig in die Hand, zerbricht jedoch das Stück Holz. „Was war das noch? Meraner Höhenweg?“

      David blickt unauffällig zur Seite. Ist sein Freund nervös? „Ja. Einmal um die Texelgruppe in Südtirol.“

      Kevin Schulte nimmt sich beiläufig einen neuen Zweig. „Ich war jetzt auch unterwegs.“

      David ist erstaunt. „Du hast nicht gesagt, dass Du Dich auf den Weg machen wolltest.“

      Auch dieser Zweig zerbricht am Widerstand des Erdreichs. „Das hat sich … spontan ergeben. Es war ein Notfall.“