Matthias Krügel

Typ 1


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einem Mehrfamilienhaus, das mehrfach auf Bildern zu sehen ist, den Tod gefunden hat. Seltsam sind die Formulierungen zur Ursache. Ein natürlicher Tod war es nicht. Von einem Mord sprechen die ermittelnden Behörden ebenfalls nicht. Stattdessen ist von einer äußeren Einflussnahme die Rede. Nach dem Gespräch von gestern kann sich David nicht vorstellen, dass Kevin Schulte Selbstmord begangen hat. Das hält er für unmöglich. Vielmehr scheint die Bedrohungslage, die er für eine seiner Spinnereien gehalten hat, real gewesen zu sein.

      Er drückt Daumen und Zeigefinger am Nasenrücken an die Augen; zur Trauer bleibt ihm nicht viel Zeit. Er muss die Lage einschätzen und überlegen, wie er weiter vorgeht. Er begibt sich in die Küche, lässt einen Kaffee durchlaufen, denkt über das Gespräch vom Vortag nach. Die Rede war von einem Schatz, versteckt in den Alpen, im Zusammenhang mit einer großen deutschen Volkskrankheit, einem Schatz, der vielen Menschen helfen würde.

      Die Gedanken nicht zu Ende gebracht, signalisiert der Laptop aus dem Wohnzimmer den Eingang einer E-Mail. Er nimmt seinen Kaffee, eilt zum Gerät und schaut auf den Bildschirm. Am unteren Bildrand befindet sich der Hinweis auf die eingehende Nachricht. Er sieht in der Halbtransparent-Darstellung den Namen Kevin und ahnt in dem Moment, dass der Eingang der E-Mail um Punkt 20 Uhr kein Zufall ist. Er ruft das Mailprogramm auf und liest die an ihn persönlich gerichtete Mitteilung mit dem Betreff „Nachricht 1“.

       Hallo David,

       auch wenn ich es Dir persönlich erklärt habe:

       Du erhältst diese automatisch versendete E-Mail, weil ich seit mindestens 12 Stunden nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte oder auf andere Weise nicht mehr handlungsfähig bin. Vielleicht ist es ein Unfall. Vielleicht etwas anderes.

       Du musst Dich nun um meinen Schatz kümmern. Hole ihn Dir, bringe ihn in Sicherheit und gib ihn erst frei, wenn Du Dir gewiss sein kannst, dass ihm kein Schaden mehr zugefügt werden kann. Es ist ein wertvoller Schatz, der das Leben vieler Menschen positiv verändern wird.

       Vertraue zunächst keinem. Auch nicht der Polizei. Dort könnte der Schatz an einer Stelle landen, der nicht zu trauen ist und die ihn vernichten könnte.

       Für Dich geht es – Du ahnst es – nach Oberstdorf. Dort erhältst Du die nächste E-Mail vom jetzigen Zeitpunkt an gerechnet nach 36 Stunden, also morgens um 8 Uhr. Es sei denn, ich kann sie vorher wieder abfangen.

       Versuche nicht, mich zu erreichen! Du weißt nicht, in wessen Hände mein Smartphone oder meine Wohnung gefallen sind! Wie Du Dir denken kannst, wäre es nützlich, wenn Du Dir Deine gesamte Bergausstattung mitnehmen würdest.

       Ich weiß, dass Du es tun wirst. Weil ich nicht weiß, ob Dir alles gelingt und ob ich alles präzise und gut vorbereitet habe oder ob irgendwelche nicht vorhergesehene Probleme entstehen, geht eine weitere E-Mail an die Polizei in Borken, die nicht mehr erfahren wird als Du. In Abhängigkeit von meinem aktuellen Zustand, der der Polizei möglicherweise bekannt ist, werden sie die Dringlichkeit einschätzen können und tätig werden.

       Ich weiß, ich sagte, eigentlich keine Polizei, aber vielleicht habe ich Glück und Du triffst auf jemanden, der sich sein eigenes Bild macht. Es gilt, Zeit zu gewinnen.

       Wenn die Polizei sich auf meine E-Mail einlässt - und sie wird es vermutlich auf Grund meiner aktuellen Lage tun - wirst Du diesem Jemand wahrscheinlich in den Alpen begegnen. Du wirst Dir hoffentlich einen Eindruck über ihn machen können, bevor er Dich erkennt. Wer auch immer das sein wird.

       Kevin

      David überlegt, was er machen soll. Zur Polizei gehen? Die bekommen aber sowieso eine vergleichbare Mitteilung. Hier kann er für seinen verstorbenen Freund nichts mehr tun. Verwandte hat Kevin kaum. Um seine Beerdigung wird sich die Halbschwester aus Darmstadt kümmern. Es wird ein Schock für sie sein. Er könnte dagegen woanders etwas für ihn tun: Wenn er sich auf den Weg macht und nach seinem Schatz sucht. Zur Beerdigung wird er dann nicht da sein, aber darauf kommt es weniger an. Schließlich ist es Kevins eigener Wunsch.

      Die nächste E-Mail soll nach 36 Stunden kommen. Vorher muss er nicht in Oberstdorf sein. Er kann morgen noch einmal zur Arbeit gehen und dann den Nachtzug nehmen. Im Internet schaut er nach einer Verbindung. Demnach wäre er übermorgen erst um 8:20 Uhr in Oberstdorf, 20 Minuten nach Eingang der nächsten E-Mail von Kevin. Das dürfte nicht schaden. Der Preis ist happig, da es bei einer so kurzfristigen Buchung keinen Nachlass mehr gibt. Aber er hat das Geld von Kevin, das extra für solche Ausgaben gedacht ist.

      Ein wenig zweifelt David an diesem Vorhaben. Schließlich weiß er kaum, worauf er sich einlässt und welche Gefahren lauern. Vielleicht sogar Lebensgefahr? Am Ende ist es seine Neugier, die den Ausschlag gibt. Seine Neugier auf das Unbekannte, das ihm Kevin geheimnisvoll umschrieben hat. Der Reiz des Abenteuers lockt ihn. Und da er in dieser Angelegenheit keinem – wem auch immer – bekannt ist, dürfte es nicht gefährlich für ihn werden.

      Zudem ist hier niemand, der auf ihn wartet oder der ihn abhalten könnte. Er bestätigt die Buchung des Zugtickets und nimmt online die Zahlung vor. Oberstdorf ist etwa 20 Kilometer von Hindelang entfernt, wo er mehrmals Urlaub gemacht hat. Er schaut sich zwar gerne andere Landstriche an, wie vor einigen Wochen in Südtirol, aber es zieht ihn immer wieder ins Allgäu zurück. Von Oberstdorf aus wird es nach oben gehen. Wer weiß, wo er hinunter kommt und eine Unterkunft im Tal benötigt. Als Nächstes ruft er sein Stammhotel Wiesengrund in der dortigen Region in Bad Hindelang an. Er freut sich: Trotz Hochsaison ist es möglich, ihn in einem Zimmer unterzubringen. Bis zur Abfahrt sind es gut 24 Stunden. Er nimmt er sich seinen Trekking-Rucksack und die Packliste, um zu schauen, was noch zu besorgen ist. Die Kleidung, vor allem die Funktionswäsche, sucht er in ein paar Minuten zusammen. Seine Hüttenausrüstung, bestehend aus dem Hüttenschlafsack in Form eines Schlafsack-Inletts, dem Ausweis des Deutschen Alpenvereins, der Stirnlampe und den Ohrstöpseln, befindet sich ohnehin im Rucksack, da er sie außerhalb von Hüttentouren nicht benötigt. Teleskopstöcke und Trinkflaschen liegen ebenfalls griffbereit. Wanderkarten hat er zusammen mit Lesebüchern auf seinem Tablet offline dabei. Beim Proviant ist das Magnesium zur Vorbeugung von Krämpfen – wer weiß, was für Touren auf ihn zukommen – nicht aufgebraucht. Es fehlen Müsliriegel, die morgen schnell besorgt sind.

      Ergänzend packt er sich einen Trolley mit normaler Bekleidung. Falls er sich einfach nur im Tal aufhalten muss, möchte er nicht permanent in Wanderkleidung herumlaufen. Auch dies ist in wenigen Minuten erledigt. Damit sind seine Vorbereitungen abgeschlossen. Angesichts der Umstände ist ihm klar, dass es keine gewöhnliche Tour wird, die vor ihm liegt. Welche Überraschungen sie für ihn bereithält, davon ahnt er nichts.

       3 Mittwoch

       3.1 Teambesprechung

      Am Morgen trifft sich das Polizeiteam im Besprechungsraum. Neben Julia Lensing sitzt Alexander Stenzel am Tisch mit Blick auf die langen schmalen Fenster. Gegenüber haben ihre Kollegen Raja Becker und Manfred Schneider Platz genommen. Alle schauen schweigend in ihre Unterlagen und Notizen, als Werner Strunz, Chef der Abteilung, den Raum betritt. Mit seinen Mitte 50 ist er ansatzweise korpulent sowie weißhaarig, hat dennoch eine sportliche Statur und immer ein seichtes, geradezu väterliches Lächeln um die Lippen. Er setzt sich auf den Drehstuhl am Kopfende und platziert vor sich eine Mappe mit seinen Unterlagen.

      „Guten Morgen zusammen!“

      Alle murmeln einen freundlichen Gruß zurück, jedoch nicht so entschlossen in der Stimmlage.

      „Wie sieht es im Fall Kevin Schulte aus?“ Er blickt nach links. „Julia, fängst Du an?“

      „Tut mir leid, ich habe nicht viel, was wir gebrauchen können. Mit Alex war ich gestern in der Wohnung. Da hat sich nichts Nützliches ergeben. Anschließend bin ich zu seinem Betrieb, einer Software-Firma, gefahren. Dort kennt man ihn als freundlichen und kompetenten Kollegen. Auffälligkeiten habe es nicht gegeben, alles sei friedlich gewesen. Einzig, dass er sich in den letzten Tagen kurzfristig ein paar Tage Urlaub