Matthias Krügel

Typ 1


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die schlitzartigen Augen seines massigen Kopfes folgt er dem Licht. Dort, wo sich noch Haar befindet, ist es kurz geschoren, aber nicht komplett rasiert. Sein beleibter, 56 Jahre alter Körper ist mit einem maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug bekleidet. Die grau-blau gestreifte Krawatte mit passendem dunkelblauem Grundton sitzt perfekt über dem weißen Hemd. Die schwarzen Schuhe sind blank poliert.

      Auf dem Schreibtisch hinter ihm, einer ein Meter mal zwei Meter großen massiven Glasplatte, abgestützt auf vier Stahlsäulen, befindet sich neben einem schwarzen Computerbildschirm mit Tastatur und Maus, einem schwarzen Telefon sowie einer schwarzen Schreibunterlage der Controllingbericht seiner Firma über das erste Halbjahr. Er enthält Zahlen und Grafiken über Umsätze und Gewinne, wie sie jeder Inhaber oder Teilhaber liebt. Auf dem Deckblatt steht der Firmenname „DaDia – Darmstadt Diabetes“, als Foto ist das derzeitige Flaggschiff seines Unternehmens, das Insulinpumpensystem „DaDia 1.0“ abgebildet. Mit dieser, seiner Neuentwicklung ist er fast aus dem Stand an der Konkurrenz vorbei gezogen, die Marktanteile erhöhen sich gefühlt täglich. Lange Jahre seines Berufslebens musste er sich im Mittelmaß bewegen, doch nun ist ihm der Sprung an die Spitze dieser Medizintechnologie gelungen.

      Leise, aber für ihn hörbar, öffnet und schließt sich seine anthrazitfarbene schwere Bürotür. Ohne sich umzudrehen, weiß er, dass es sich um seinen Vertrauten, Markus Anderson, handelt. Seit vielen Jahren ist er seine rechte Hand, nicht als leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern als Leiter der Sicherheitsabteilung. In dieser Funktion vermeidet er es, sich unnötig in der Firma sehen zu lassen, um bedarfsweise nicht erkannt zu werden. Sein heutiges Erscheinen ist eine der wenigen Ausnahmen.

      Sein Äußeres passt ideal in den Raum: Er ist mit Anzug, Hemd und Krawatte komplett schwarz gekleidet. Im Unterschied zu seinem Chef ist er wesentlich schlanker, durchtrainierter, erst 43 Jahre alt, mit nur etwas hoher Stirn und sich daran anschließendem vollen dunkelroten Haar.

      Gemeinsam schauen sie nebeneinander in den stärker werdenden Regen, bis Martin Gertz als Erster spricht.

      „Die Firma steht vor ihrer größten Krise seit der Gründung. Gerade jetzt, zur Zeit des größten Erfolges. Und alles wegen dieser Franziska Vaillant. Wir hätten es anders lösen müssen, als sie in meine Firma zu holen.“

      Es entsteht eine Pause, bis sich Markus Anderson äußert.

      „Sie bleibt verschwunden. Sie könnte sich hier um die Ecke befinden, wir würden es nicht bemerken. Ihre Chefin und alte Freundin Beryl Summers macht in ihrem Institut weiter, als wäre nichts passiert. Aber wir wissen, dass sie vor ein paar Tagen, nach dem Verschwinden, Kontakt hatten. Die Auswertung der Anrufe vom und zum Smartphone von der Vaillant durch das LKA Wiesbaden hat eindeutig ergeben, dass die beiden telefoniert haben. Nun wird das Smartphone von der Summers überwacht, aber da passiert nichts mehr.“

      Dr. Martin Gertz murmelt verächtlich vor sich hin. „Vielleicht hat die aus England stammende Familie der Summers mitgeholfen und die Vaillant ist über den Kanal.“

      „Möglich. Aber dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Sie könnte überall sein, hier in Darmstadt, in Deutschland, in Europa, in einem anderen Erdteil.“

      „Was ist mit anderen Unterstützern? Gibt es irgendwelche gleichgesinnte Fanatiker?“

      „Ebenfalls keine Informationen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Andere ihr behilflich sind. Oder sie ebenfalls suchen.“ Markus Anderson atmet tief durch, bevor er seine aktuellsten Neuigkeiten übermittelt. „Der andere Telefonkontakt der Vaillant ist eine kalte Spur, aber der einzige Anhaltspunkt. Das LKA Wiesbaden hat nachgehakt: Es gibt Aktivitäten der Polizei aus Nordrhein-Westfalen in Richtung Allgäuer Alpen.“

      Zum ersten Mal sieht Dr. Martin Gertz zu seinem Mitarbeiter, verzieht sein Gesicht. „Allgäuer Alpen? Was hat das alles mit den Bergen zu tun?“

      „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nur ein Ort auf der Landkarte. Vielleicht auch ein geeigneter Ort, um etwas zu verstecken.“

      „Hätte man da nicht ein Schließfach am Bahnhof nehmen können?“

      Anderson zuckt als Antwort kurz mit den Schultern. Gertz schaut durch die verregnete Scheibe wieder nach draußen, bevor er leise weiterspricht.

      „Wir können uns nicht alleine auf das LKA verlassen. Und nicht warten, bis wir von der Vaillant hören. Folgen Sie der Spur in die Alpen. Veranlassen Sie alles, was erforderlich ist, damit der Spuk ein Ende nimmt.“

      Das ist der Moment, an dem Markus Anderson erstmals zu seinem Chef schaut. Er hat verstanden. Es geht auch um seine eigene Existenz. Er hat keinen Grund, sich zu beschweren, dass seine Leistungen bisher zu gering entlohnt worden sind. Er hat berechtigte Zweifel, dass er woanders dasselbe Gehalt bekommen würde. Schweigend dreht er sich um und verlässt das Büro. Es gibt nichts weiter zu besprechen.

      Eine dreiviertel Stunde später passiert Julia die Stadt Heidelberg. Nach dem kurzen kräftigen Schauer bei Darmstadt verrichten die Scheibenwischer bei Nieselregen und aufspritzendem Wasser der vorausfahrenden Fahrzeuge in Intervallschaltung ihren Dienst. Der Polizeieinsatz auf der Autobahn war zu ihrem Glück nicht mit einem Verkehrsunfall verbunden. Weiterhin kommt sie gut voran. Von Heidelberg weiß sie, dass es ein schönes Schloss haben soll. Sie war noch nie da. Und Schlösser interessieren sie auch nicht.

      Ein paar Kilometer östlich von ihr interessiert Roland Zimmermann das Schloss von Heidelberg ebenfalls nicht, obwohl er nur ein paar weitere Kilometer davon entfernt wohnt. Sein Wohnsitz hat er nicht wegen kultureller Sehenswürdigkeiten ausgewählt, sondern wegen seines Berufes als Logistikexperte.

      Vor drei Jahren ist er mit seiner Frau hierher gezogen. Gemeinsam bewohnen sie ein kleines Reihenhaus mit genügend Platz für eine kleine Familie. Zwei Zimmer könnten jederzeit in Kinderzimmer umfunktioniert werden. Der Kinderwunsch ist bei ihnen vorhanden. Bisher hat es nicht geklappt.

      Woran er seinen Anteil hat. Vor 5 Jahren, im Alter von 27, war bei ihm Diabetes Mellitus Typ 1, festgestellt worden. Dies war für ihn trotz der mittlerweile hervorragenden Behandlungsmöglichkeiten ein Schock. Die Folge sind bis heute launische Zeiten und Zurückweisungen gegenüber seiner Frau, auch in den entscheidenden fruchtbaren Tagen.

      Im Dachgeschoss des Reihenhauses hat er sich ein Büro eingerichtet, welches er gelegentlich – wie heute – zum Homeoffice nutzen kann. Sein Betrieb lässt ihm räumliche und zeitliche Flexibilität, die der Effektivität und Effizienz der Arbeitsergebnisse nicht abträglich ist.

      In der Betriebskantine hat er heute gemeinsam mit Arbeitskollegen zu Mittag gegessen. Anschließend hat er sich auf den Weg nach Hause gemacht, um von dort in heimischer Atmosphäre in Ruhe ein Projekt weiter auszuarbeiten. Über das Internet hat er Zugriff auf alle erforderlichen Daten und Dateien, wie er sie auf dem Arbeitsplatz im Betrieb hat.

      Mit der Konzentration auf das Projekt ist es heute etwas her. Auf dem Bildschirm seines Laptops erscheint zum wiederholten Male das Ergebnis einer Suchabfrage zu Diabetes und Heilung. Sie ist kombiniert mit weiteren Begriffen, da er die gängigen und bei ihm Frust auslösen Internetseiten fast auswendig kennt. So sucht er weiter, dem unlogischen Drang folgend, die Lösung befinde sich auf irgendeiner Internetseite und müsse dort nur gefunden werden.

      Mit den Händen seiner muskulösen Arme stützt er seinen Kopf ab. Nachdenklich suchen seine grünen Augen den über die Bildschirmfläche. Da hat er sich aufgrund seiner Reisen und des Kinderwunsches gegen mehrere Krankheiten nachimpfen lassen und nun das. Warum gibt es keinen Impfstoff gegen Diabetes? Die Behandlung beinhaltet keine Heilung, sondern ausschließlich den Umgang mit den gegebenen Umständen.

      Die Krankheit, an die er sich in seinem Alter schwer gewöhnen kann, nimmt ihn sehr in Anspruch, vor allem bei abweichenden Werten. Und bei seinem Perfektionismus sind Abweichungen schnell erreicht. Es setzt ihn unter Stress, da ihm aufgrund der verschiedenen Wirkungen und Wechselbeziehungen häufig die Ursachen und Zusammenhänge nicht klar sind. Dass es nicht so einfach steuerbar ist wie in seinem Beruf, sieht er in seinem Kontrollwahn nicht ein. Er stattet sich