Matthias Krügel

Typ 1


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      Roland Zimmermann wischt sich mit beiden Händen durch sein welliges mittellanges strähniges Haar und sein bärtiges Gesicht. Es ist heute der 30. Sucheintrag, den er aufruft und überfliegt. Doch langsam gerät er aus seiner Lethargie. Das, was er dort liest, macht ihn zunehmend aufmerksam.

      Die Rede ist nicht wie sonst üblich von Wirkweisen der Bauchspeicheldrüse, sondern des Autoimmunsystems und deren Beeinflussung von außen, und zwar durch Impfungen. Hat er nicht schon woanders gelesen, dass ein Zusammenhang zwischen Diabetes und Impfung nicht nachgewiesen werden kann? Ein Ausschluss hört sich anders an. Und hat er sich nicht vor dem Auftreten der Krankheit impfen lassen?

      In diesem Artikel wird es konkreter: Es werde untersucht, dass die Kombination von bestimmten Impfstoffen die Abwehrzellen mutieren lasse, die die insulinproduzierenden Zellen als feindlich ansehen und vernichten. Und dann der Schlüsselsatz: Die festgestellten Zusammenhänge werden im Rahmen von Gegenimpfungen überprüft. Er liest sich den Satz mehrmals durch. Die Zusammenhänge sind bereits festgestellt? Und es gibt Gegenimpfungen? Er will nicht auf jahrelange Forschungen und Zulassungsverfahren warten. Er will direkt daran teilnehmen. Es müssen seine Impfungen gewesen sein, die seinen Diabetes verursacht haben. Nun muss eine Gegenimpfung her.

      Er untersucht die Internetseite weiter. Sie ist von einem Institut für innovative Heilmethoden, IfiH. Ansprechpartnerin ist eine Franziska Vaillant.

      Er schaut kurz auf die Telefonnummer. Es ist nach 16 Uhr. So ein Anruf darf nicht überstürzt sein. Abgewimmelt werden will er nicht, nur weil gleich Feierabend ist. Er will nicht einer von vielen sein, die mit allgemeinen Aussagen vertröstet werden. Er will unmittelbar dabei sein. Schließlich ist sein Entschluss gefasst. Gleich morgen wird er dort anrufen.

      Nicht zu erkennen ist, wie alt oder aktuell die Internetseite ist.

      Mit ein paar Pausen, ohne Stau, passiert Julia gegen 19:30 Uhr das Ortsschild von Sonthofen im Allgäu. Wie vereinbart, hat sie vor einer halben Stunde Rosalia Mancini angerufen und sich mit ihr abgesprochen. So steuert sie die erste Tankstelle an und wird aufgrund ihres in dieser Region weniger üblichen Auto-Kennzeichens sofort erkannt: Eine Frau südländischen Typs winkt ihr freundlich zu. Sie steigt aus, geht dieser entgegen und gibt ihr die Hand. „Sie dürften Frau Mancini sein?“

      „Dann sind Sie Frau Lensing?“

      Julia lächeln zwei weiße Zahnreihen, gefühlt alle 32 Zähne, aus einem gebräunten und von schwarzen Haaren eingerahmten Gesicht an, welches von einem charmanten Knubbelnäschen geprägt ist. Über ihren tiefbraunen Augen verlaufen geschwungene dunkle Augenbrauen.

      „Das bin ich.“ Höflich lächelt sie zurück. „Freut mich, dass Sie sich meiner annehmen. Die Berge sind mir zwar vertraut, aber diese Gegend nicht. Entschuldigen Sie, dass ich Sie von Ihrem verdienten Feierabend abhalte.“

      „Passt schon. Mein Freund ist ganz anderen Kummer gewöhnt, wenn es spontan etwas zu tun gibt. Haben Sie Hunger?“

      „Ja! Die Pausen zwischendurch waren kurz und wenig nahrhaft.“

      „Dann gehen wir gemeinsam essen, bevor ich Sie am Hotel absetze. Regionale Speisekarte, wenn Sie Lust darauf haben.“

      „Gern!“

      Gemeinsam steigen sie in Julias Auto und starten Richtung Innenstadt von Sonthofen. Sie beäugt ihre Beifahrerin, die nicht nur südländischen, sondern auch sportlichen Typs zu sein scheint. Außerdem ist der bayrische Akzent eindeutig zu erkennen. Sie nimmt Rücksicht auf Julia als Auswärtige, die sie ansonsten nicht verstehen würde. „Sie sind von einer Alpinen Einsatzgruppe?“

      „Yepp. Ich gehöre quasi zu einer Spezialeinheit der Bayrischen Polizei. Sobald ein Einsatz ins alpine oder schwer zugängliche Gelände geht, kann nicht jeder Streifenpolizist losgeschickt werden. Wir sind unterwegs bei Unfällen oder wenn es um die Suche von Vermissten oder die Bergung von Toten geht.“

      „Was ist mit der Bergwacht?“

      „Mit der arbeiten wir eng zusammen. Und da bin ich ehrenamtlich. Je nach Bedarf bin ich in der einen oder anderen Rolle unterwegs. Meinen Schein als Bergführerin konnte ich mir teilweise auf die Polizeibergführerin anrechnen lassen.“

      „Da sind sie entsprechend durchtrainiert.“

      „Na, machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden miteinander klar kommen. Und ganz unvorbereitet trifft es Sie ja auch nicht, wie ich gehört habe.“

      Julia lächelt teils verlegen, teils irritiert zurück. „Geht so.“ Sie hat keine Ahnung, was Alex in Kempten zum Besten gegeben hat und dann nach dem Prinzip Stille Post bei dieser Rosalia Mancini angekommen ist. Weiter auseinandersetzen will sie das nun nicht.

      Sie haben die Lokalität erreicht. Das Thema hat sich erledigt, bis es zum praktischen Einsatz kommt.

      700 Kilometer weiter nördlich steht David am einzigen Bahnsteig von Borken und wartet auf den Zug nach Essen – die einzige Richtung, in die es in diesem Endbahnhof eine Bahnstrecke gibt. Am Tag hat er alles erledigen können, was zu erledigen war. Sein Chef war etwas irritiert über eine spontane Hüttentour – mehr sollte er nicht erfahren – hat dann aber mit einem leichten Schmunzeln und der Vermutung, dass eine weibliche Person im Spiel ist, den Urlaub bewilligt. David sah ihm diesen Irrtum an, beließ es dabei und war eher froh darüber, nicht mehr erklären zu müssen.

      Der Zug fährt ein, die Türen öffnen sich, er bleibt davor stehen. Ist das wirklich richtig, was er macht? Noch könnte er zur Polizei gehen, die bisherige Verzögerung ließe sich irgendwie begründen. Aber was soll er erzählen, was dürfte nicht ohnehin schon bekannt sein? Die Polizei müsste ebenfalls eine E-Mail von Kevin bekommen haben. Dass er eine gleichlautende Nachricht erhalten hat, wird der Polizei nichts nutzen. Und mehr kann er nicht sagen. Außer der vagen Information, dass es mit einer weit verbreiteten Krankheit zu tun haben soll.

      Trotzdem: Was kümmert er sich um Dinge, von denen er im Grunde nicht weiß, ob er ihnen gewachsen ist? Nur weil es der Wunsch von Kevin Schulte ist?

      Er atmet tief durch. Genau so ist es. Und man wächst mit seinen Aufgaben. Mit Trolley in der Hand und Rucksack auf dem Rücken betritt er den Zug. Er sucht sich einen freien Platz, was zu dieser abendlichen Abfahrtszeit nicht schwer ist. Kurz darauf starten der Zug nach Essen und seine Reise in die Alpen.

       4 Donnerstag – Aufbrüche in die Bergwelt

       4.1 Julias Morgen in Sonthofen

      Da für acht Uhr die nächste Nachricht erwartet wird, ist Julia eine Stunde früher aufgestanden, hat gefrühstückt und ist kurz vor acht Uhr zu Fuß zur Polizeidienststelle von Sonthofen gegangen. Rosalia Mancini empfängt sie dort mit dem gleichen freundlichen Lächeln des Vortages und stellt sie ihrem dortigen dienstlichen Leiter, einem Christian Bach, vor.

      „Guten Tag, Frau Lensing. Wir haben sicherlich Besseres zu tun, als unser Personal für eine Schatzsuche zur Verfügung zu stellen. Da da dies in Verbindung mit einem Todesfall steht, wollen und können wir uns dem selbstverständlich nicht entziehen.“

      Obgleich sich dies für Julia bestimmend anhört, klingt er sehr höflich. Vielleicht etwas aufgesetzt, aber dennoch authentisch. Das Lächeln aus seinem gebräunten Gesicht wirkt aufrichtig. Genau genommen ist sein ganzer Kopf gebräunt. Selbst dort, wo noch Haar wachsen könnte, ist es glatt rasiert. Eine Haarfarbe ist für sie nicht auszumachen. Sie schätzt ihn auf Ende 40.

      „Vielen Dank. Ich weiß das zu schätzen.“

      Kurz nach acht Uhr piept ihr Smartphone. In der Polizeiwache in Borken ist um Punkt acht Uhr eine E-Mail von Kevin Schulte eingegangen und an sie weitergeleitet worden. Sie liest den Text mit dem Betreff Nachricht Nr. 2 den beiden anderen vor.

       Sehr geehrte Damen und Herren,