Matthias Krügel

Typ 1


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sich immer weiter von ihnen entfernen. Tom Horn nimmt sich sein Smartphone und sucht aus seinen Kontakten eine Person aus.

      Unten im Tal, irgendwo in Oberstdorf auf einem Parkplatz, sitzt Karsten Hinrichs am Steuer eines weißen SUV. Er sinniert mit einem permanent starren Blick und dicht über seinen Augen liegenden Brauen vor sich hin.

      Zunächst war es gut gelaufen: Mit der vagen Beschreibung, dass eine Polizistin aus Borken bei der Polizei in Sonthofen auftauchen wird, haben sie gestern Abend auf der Lauer gelegen. Da sich nicht viele Fahrzeuge mit dem Kennzeichen BOR hierher verirren, ist ihnen der schwarze Mazda sofort aufgefallen, obwohl der Wagen nicht die Polizeistation, sondern das in der Nähe gelegene Hotel angesteuert hat. Endgültige Gewissheit hatten sie erst, als ihre Zielperson sich heute Morgen zu Fuß zum Polizeigebäude begeben hat. Ihr danach weiter zu folgen, war kein Problem. Doch als sie sich vor dem Hotel mit der anderen Frau in Wanderkleidung traf, beide mit dick bepackten Rucksäcken ausgestattet, schwante ihm Böses. Dem Auto nach Oberstdorf zu folgen, war einfach. Nun sind die Frauen die Nebelhornbahn hochgefahren, so dass er ihnen Tom Horn und Lars Boczony hinterhergeschickt hat. Er selbst will so lange wie möglich im Tal bleiben.

      Vor sich hat er ein Klemmbrett auf den Knien, angelehnt ans Lenkrad. Das oberste Blatt darauf hat mittig das Foto einer Frau. Darüber hat er mit seinem Stift „WANTED“ geschrieben, da drunter „Franziska Vaillant“. Für ihn und seine Begleiter geht es ausschließlich um eines: Sie zu finden. Und da ist das Problem, dass es keine Anhaltspunkte gibt, wo sie sein könnte. Stattdessen folgen sie der einzigen Spur, die sie kennen, in Person einer Gesetzeshüterin aus dem Westmünsterland. Als sein Smartphone klingelt, greift er blind danach und nimmt den Anruf an.

      „Tom, wie sieht es bei Euch da oben aus? Habt Ihr die Dame aus dem Flachland gut im Blick? Ich meine, es wäre schade, wenn sie verloren gehen würde.“

      „Sie ist in den Bergen unterwegs. Zusammen mit dieser Polizistin aus Sonthofen. Es ist anzunehmen, dass sie über die Berge zu einem Prinz-Luitpold-Haus wandern. Eine Hütte mitten in jenen Bergen. Wir haben einen entsprechenden Eintrag von Kevin Schulte gefunden, der vor ein paar Tagen dorthin gegangen ist. Sie folgen seiner Spur.“

      „Warum geht Ihr nicht hinterher? Ich meine, Ihr verfolgt sie und das solltet Ihr auch weiterhin tun. Oder haben wir etwas anderes besprochen?“

      „Das sind vier Stunden durch die Wildnis zu einer abgelegenen Hütte, wo sonst nichts ist. Und hier oben ist es frischer als bei Dir im Tal.“

      Karsten Hinrichs malt mit einem Kugelschreiber Kreise unter das Bild von Franziska Vaillant. „Vielleicht finden sie unterwegs dorthin irgendetwas oder treffen jemanden.“

      „Uns interessiert nur das Ergebnis, oder?“

      „Wie meinst Du das?“

      Tom Horns Stimme wird leiser. „Dass wir nicht hinterherlaufen müssen, wenn wir das Ziel kennen, sondern lediglich am Ziel ankommen. Sollten sie uns etwas von unterwegs mitbringen, nehmen wir es dankend entgegen.“

      „Stimmt. Speedy, einmal zum Prinz-Luitpold-Haus?“

      Ein junger Mann auf dem Rücksitz mit einem Laptop auf den Knien, der normalerweise Florian Brackmann heißt, fühlt sich angesprochen. Sein Spitzname resultiert nicht aus körperlichen Geschwindigkeiten, sondern seinen Fähigkeiten, Informationen aus dem Internet bereitzustellen. Seine Finger fliegen über die Tastatur.

      „35 Minuten Fahrzeit zu einem Ort namens Hinterstein. Von dort ist die Straße für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Eine Busverbindung verläuft bis zu einem Giebelhaus. Dahinter gibt es weitere Fahrwege. Der weitest gehende befahrbare Punkt befindet sich von hier aus nach einer Stunde, zehn Minuten. Von dort sind es zu Fuß eine Stunde, 20 Minuten bis zum Prinz-Luitpold-Haus. Offiziell.“

      „Schön. Das sind insgesamt zweieinhalb Stunden. Kommt mal wieder da hinunter. Wir rüsten unser Auto für Privatwege um und gehen schön für Euch einkaufen, dass Ihr alles für eine Bergtour inklusive Hüttenübernachtung habt. Ich meine, unsere Frau Lensing und ihre bayrische Kollegin sind etwas dicht auf der Spur. Da sollten wir dabei sein, wenn sie es finden. Oder schon gefunden haben.“

      Als Julia und Rosalia nach fünf Minuten den abzweigenden Berggrat erreichen, haben sie freie Sicht nach Süden auf ein faszinierendes Alpenpanorama. Nach Norden schließt sich das wesentlich flachere Alpenvorland an.

      Die meisten Leute führen hier wenig Gepäck mit sich. Sie sind mit den Gondeln der Nebelhornbahn hochgefahren und kurz bis hierher gelaufen, um die Aussicht zu genießen. Sie werden sich nicht auf einen weiteren Weg begeben, sondern nur zurück bis zur Bergstation. Mit der Angelegenheit der beiden Frauen werden diese Personen nichts zu tun haben.

      Julia genießt kurz den Ausblick und schaut zu Rosalia. Sie blicken sich an, nicken sich zu und begeben sich ohne weiteres Warten auf den deutlich schmaleren Wanderpfad entlang des Hauptberggrates.

      Der Weg hat zunächst wenige Anstiege und ist leicht zu begehen, so dass sie gut vorankommen. Julia hat immer wieder Gelegenheit, auf die vielen Berggipfel in die Ferne zu schauen, die üppigen Blumen- und Graswiesen in der Nähe zu betrachten oder einen Blick in das unten parallel verlaufende Oytal zu werfen. Das alles hat sie vermisst. Nun ist sie froh, auf diese Weise in diesem Jahr auf ihre Bergtour zu kommen, und vergisst fast, warum sie eigentlich hier ist. Sie wendet sich an die vor ihr laufende Rosalia.

      „Ist diese botanische Vielfalt typisch für das Allgäu?“

      „Nein. Wären wir zur Schwarzenberghütte geschickt worden, über das Koblat, sähe das anders aus. Auch schön, aber nicht so bunt.“

      „Das Koblat?“

      „Ja. So eine Art Hochfläche da drüben“ – sie deutet nach hinten links – „entlang der Bergkette namens Daumengruppe. Wobei Fläche nicht ganz zutreffend ist, da es laufend hoch und runter geht. Kannst gleich sehen.“

      Rosalia bleibt in einem konstanten Abstand vor ihr. Auch wenn Julia nicht die Langsamste ist, ist sie sich sicher, dass ihre Wandergefährtin auf sie Rücksicht nimmt und ohne sie eine andere Geschwindigkeit gehen könnte. Trotzdem haben sie bisher andere Wanderer überholt und sind selbst nicht überholt worden.

      Nach eineinhalb Stunden ragt vor ihnen eine steile Rasenfläche empor, an der sich in Serpentinen der Weg etwa 150 Höhenmeter hochschlängelt. Es steht der erste ernstzunehmende Aufstieg bevor. Die bisherige Strecke war Julia zur Aktivierung der Trittsicherheit nützlich. Der Hauptberggrat zweigt rechtwinklig nach rechts ab, der Weg wechselt oben geradeaus auf die andere Seite.

      Am Fuß der steilen Fläche befindet sich eine Absenkung des Grates, so dass der Weg in dieser Mulde auf die Oberkante trifft. Dadurch haben sie eine Aussicht in ein anderes Tal. Julia bleibt stehen. Der Ausblick ist einfach traumhaft.

      Sie setzen für eine Rast ihre Rucksäcke ab und greifen nach ihren Trinkflaschen. Rosalia erklärt die Umgebung. „Dies ist das Obertal. Von Oberstdorf ist es bis dahin über Talwege ein großer Bogen. Hier vorne rechts der abzweigende Grat ist der Giebel, der von unserem Bergkamm wie eine Einschiftung an einem Haus abzweigt. Aus der Ferne betrachtet ist der Grat, also der First, gerade. Die seitlichen Hänge, also die Traufen, verlaufen optisch glatt und ebenförmig. Dort hinten, von hier aus am anderen Ende, ist der namensgebende frontseitige Giebel und unten am Fuß das Giebelhaus. Da kommen die beiderseitigen Täler zusammen und verschmelzen zum Hintersteiner Tal. Auf der anderen Seite vom Giebel ist das Bärgündeletal. Da kommen wir hin, denn dort ist auf der gegenüberliegenden Talseite unser Ziel, das Prinz-Luitpold-Haus. Bis dahin sind es noch zweieinhalb Stunden. Ins Bärgündeletal kommen wir, wenn wir dort oben auf die andere Seite des Bergkammes wechseln.“

      Wie Rosalia hinauf deutet und Julia ihrem Blick folgt, nehmen sie oben am Hang einen einzelnen Wanderer wahr. Er trägt einen schwarzen Rucksack, den zwei leuchtend rote streifenförmige Absetzungen zieren. Julia äußert als erste den Gedanken, den beide haben.

      „Mittlerweile sind nicht mehr viele Leute unterwegs. Ob das der ist, der in dem Hüttenbuch