Matthias Krügel

Typ 1


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ist die Grenze zu Österreich. Die nächsten bewirtschafteten Hütten sind weitere vier bis sechs Stunden entfernt. Und bis zur nächsten Bebauung runter in das Lechtal dauert es genauso lange. Zum Schrecksee, den Du als Foto hast, gelangt man durch die Scharte ebenfalls, aber da gibt es keine Übernachtungsmöglichkeit.“

      „Moment.“ Julia ruft auf ihrem Smartphone die Bilder auf. „Schau hier. Der Eintrag von Kevin Schulte in dieser Hütte ist einen Tag später erfolgt als auf dem Edmund-Probst-Haus. Er hat demnach im Prinz-Luitpold-Haus übernachtet.“

      „Sollten wir das gleichfalls tun?“

      Julia schaut wieder hoch zur Scharte. „Denke schon. Zumal wir da oben vielleicht rätseln müssen, wohin es weitergeht. Offenbar ist da kein Hüttenbuch mit einem deutlichen Eintrag.“

      „Yepp. Wir müssten nicht nur wandern, sondern auch suchen.“

      „Das könnte in diesem Fall mit dem Schrecksee zu tun haben. Wir haben aber immer noch keinen eindeutigen Bezug zum Foto. Außerdem kann ich unseren Wanderkameraden von unterwegs nicht an dem Hang entdecken. Anscheinend bleibt der ebenfalls über Nacht.“

      Sie schlendern wieder in das Gebäude zur Anmeldung. Betten sind alle belegt, so dass ihnen zwei Plätze im Matratzenlager zugewiesen werden. Sie tauschen die Wanderschuhe gegen Sandalen, begeben sich mit ihren Rucksäcken in das Obergeschoss und dort in einen von mehreren Schlafräumen. Auf beiden Seiten verlaufen die Schlafplätze jeweils über zwei Etagen und füllen bis auf den Gang dazwischen den Raum aus. Am Ende befindet sich ein kleines Fenster. Fast überall liegen dicht aneinandergereiht die dunkelbraunen Schlafdecken und die weißen Kissen. Auf der schmalen Holzkante am Fußende sind die Nummern der Schlafplätze geschrieben. Demnach sind sie nahe der Tür in der unteren Reihe untergebracht. Julia stellt fest, dass mehrere der abgestellten Rucksäcke noch nicht ausgepackt sind. Nur vereinzelt sind die ersten Schlafsäcke ausgerollt. Sie stellt ihren Rucksack neben dem von Rosalia ab und spricht sie an. „Sollen wir erst etwas trinken gehen, bevor wir duschen und uns weiter einrichten?“

      „Yepp. Aufgrund der verbrauchten Reserven kann ich mittlerweile Zuckerhaltiges vertragen. Ansonsten könnte es grenzwertig werden.“

      Julia ist irritiert, misst dem aber keine weitere Bedeutung zu. Sie begeben sich wieder in das Erdgeschoss und kurz darauf mit je einem halben Liter Skiwasser als ersten Durstlöscher auf die zum Tal hin gelegene Terrasse. Zusammen blicken sie nach links auf den Streckenabschnitt, als sie am Laufbacher Eck in das Bärgündeletal gewechselt sind. Vor Ihnen erstreckt sich auf der gegenüberliegenden Talseite die südliche Traufe des Giebels. Halb rechts liegt von hier aus gut sichtbar am Hang des Obertales die Schwarzenberghütte, die sie vorhin aus der anderen Richtung gesehen haben. Weiter unten, im Tal, befindet sich das Giebelhaus mit der Endstation der privaten Buslinie.

      Das Giebelhaus ist ein freistehendes einzelnes Gebäude mit Innen- und Außengastronomie. Es befindet sich im Tal auf einer flachen Ebene zwischen den Berghängen. Ungefähr hundert Meter entfernt fließen an einer Brücke die Bäche aus dem Obertal und dem Bärgündeletal zur Ostrach zusammen.

      Direkt vor dem Gebäude gibt es eine ausreichend große Fahrbahnfläche, um einen Bus wenden zu können. Zur Mitte des Nachmittages lässt der Zustrom von Touristen nach, während sich viele zurück nach Hinterstein transportieren lassen.

      Einer derer, die noch aussteigen, ist Adrian Dekker. Er begibt sich ein paar Meter von der Haltestelle weg auf dem asphaltierten Wirtschaftsweg, der in das Bärgündeletal führt. Er wartet wie besprochen eine Weile, bis sich vom Giebelhaus eine weibliche Person nähert. Sie schaut sich kurz um, um ein Versehen auszuschließen, dann spricht sie ihn an.

      „Wir sind verabredet, nehme ich an.“

      Adrian Dekker mustert die großgewachsene, schlanke Frau, die er auf Ende 50 schätzt. Wachsame, tief liegende dunkelbraune Augen fixieren ihn, die fast gänzlich schwarz wirken. Auf den schmalen Lippen ist ein angedeutetes Lächeln zu erkennen.

      „Dann sind Sie Susanne Bordon, nehme ich an.“

      „Freut mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, Herr Dekker.“

      „Grundsätzlich gern. Aber musste es in dieser Einöde sein? Wie in unserem gestrigen Telefongespräch erwähnt, hätte ich Sie lieber an einer gemütlichen Hotelbar getroffen.“

      Sie deutet mit ihrem Blick auf die umgebenden Berge. „Wirklich? Ihr Schützling ist doch hier oben unterwegs.“

      „Genau in dieser Gegend? Woher wissen Sie das?“

      „Das Landeskriminalamt Wiesbaden besteht aus mehr als einer Person.“ Sie mustert ihr Gegenüber, der wie gewohnt einen Anzug trägt, während sie zwar nicht in Wanderkleidung, aber legerer angezogen ist. „Sie sind ziemlich berguntypisch gekleidet, Herr Dekker, wenn ich das einmal sagen darf.“

      „Ich werde mich nicht einen Schritt weiter in die Berge begeben, als mich der Bus hierher gebracht hat. Mein Weg geht als Nächstes dieselbe Strecke zurück. Folglich brauche ich keine andere Kleidung.“

      „Haben Sie nicht Sorge, Frau Lensing aus den Augen zu verlieren?“

      „Sollte das nicht meine alleinige Sorge sein, Frau Bordon? Immerhin habe ich jemanden, den ich aus den Augen verlieren könnte. Sie dagegen scheinen gänzlich im Dunkeln zu tappen, sonst wären Sie nicht so anhänglich. Wie wäre es, wenn Sie mit mehr Details herausrücken würden, damit wir uns gegenseitig ebenso mehr helfen könnten?“

      Es entsteht eine Pause, als müsse Susanne Bordon erst überlegen, ob sie ihm das großartige Geheimnis anvertrauen darf, bevor sie ihm antwortet.

      „Sie haben Recht, Herr Dekker. Ich denke, es ist an der Zeit, Sie mit weiteren Informationen zu versorgen. Nur eine konstruktive vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Landeskriminalämtern von Düsseldorf und Wiesbaden kann dazu führen, dass ein großes Unheil abgewendet wird.“ Sie dreht sich kurz um und schiebt ihn ein paar Meter vom Giebelhaus weg. „Wie ich Ihnen gestern sagte, plante eine Person mit Kontakten zu islamistischen Fundamentalisten einen groß angelegten Angriff auf die deutsche Bevölkerung. Es ist nicht sicher, ob ihr Plan erfolgreich vereitelt worden ist. Sie ist zwar aufgeflogen, aber sie hat möglicherweise schon alle erforderlichen Maßnahmen für eine effektive Umsetzung ihrer Tat abgeschlossen. Ein aktives Zutun von ihr ist in dieser Phase der Ausführung nicht mehr geboten.“

      „Um wen handelt es sich bei der Person?“

      Susanne Bordon setzt sich langsam in Richtung der Brücke in Bewegung. „Ihr Name ist Franziska Vaillant. Sie dürfte Ihnen nicht bekannt sein. Die Radikalisierung hat sich bei ihr kurzfristig vollzogen. Eine kriminaltechnische Vorgeschichte besteht nicht. Sie handelt aus reiner Frustration infolge ihrer missglückten Lebenssituation. Anstatt sich einfach umzubringen, meint sie, dem Ganzen einen letzten Sinn geben zu müssen, indem sie einer extremistischen Weltanschauung folgt und unschuldige Menschen mit in den Tod reißen will.“

      Adrian Dekker bleibt an ihrer Seite. „Und welche Waffen verwendet sie?“

      „Insulin.“

      „Insulin?!“

      „Wie sie wissen, beschränkt sich die Ausführung von Attentaten nicht mehr auf Bomben an belebten Orten oder in Flugzeugen. Stattdessen fahren Lastwagen in Menschenmengen oder es wird in Zügen mit Äxten auf Passagiere losgegangen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Personenkreis ist längst nicht mehr auf überzeugte Fanatiker limitiert, sondern beinhaltet zusätzlich psychisch gestörte Persönlichkeiten, die wirkungsvoll über elektronische Medien ferngesteuert werden.“

      Auf dem Wirtschaftsweg nähert sich aus Richtung des Bärgündeletal ein weißer Pkw mit rot-weißen Streifen, einer gelben Warnlampe auf dem Dach und dem Schild Vermessung hinter der Windschutzscheibe. Drinnen sitzen zwei Personen. Der Wagen fährt talabwärts in Richtung Hinterstein weiter. Die beiden Kriminalisten schenken ihm keine Beachtung.

      Adrian Dekker hakt nach. „Was bedeutet