Matthias Krügel

Typ 1


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und leider zusätzlich psychisch beeinträchtigt. Offenbar kommt sie nicht mehr mit ihrer verfahrenen Situation zurecht. Das deprimierende Krankheitsbild und die ausbleibenden Forschungserfolge haben bei ihr eine weitreichende und nachhaltige Frustration ausgelöst. Vor Kurzem erhielt ich einen Notruf der Firma Darmstadt Diabetes, kurz DaDia. Diese ist erfolgreich in der Herstellung von gleichnamigen medizinischen Insulinpumpensystemen. In diesen technisch ausgefeilten Geräten sind mittlerweile äußerst komplexe Algorithmen programmiert, um eine automatisierte Insulinzufuhr zu steuern. Dabei spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle: Wann wird wie viel zugeführt.“

      Sie erreichen die Brücke. Adrian Dekker stützt sich auf dem Geländer ab. Unter ihm schießt das Wasser hindurch. „Das läuft alles vollautomatisch?“

      Susanne Bordon steckt neben ihm gleichgültig ihre Hände in die Hosentaschen. „Manuelle Korrekturen oder Feinjustierungen sind selbstverständlich möglich und in gewissem Maße auch erforderlich. Außerdem muss die Insulinreserve regelmäßig aufgefrischt werden. Das System läuft dabei stetig weiter. Und dort hat sie mittels Fernwartung ergänzende Programmierungen vorgenommen. Zu einem bestimmten, in der Zukunft liegendem Zeitpunkt sollen sehr viele im Umlauf befindliche Geräte eine hohe Menge Insulin abgeben.“

      „Das merken die betroffenen Personen nicht?“

      „Die Insulinabgabe erfolgt stetig über einen Katheter in den Körper hinein. Und zwar so, wie die Voreinstellungen der Pumpe es vorsehen. Die von Frau Vaillant programmierte Menge wäre so hoch, dass innerhalb kurzer Zeit die Bewusstlosigkeit eintritt. Kommt niemand zur Hilfe, ist mit dem Tod zu rechnen.“

      Adrian Dekker betrachtet das Tal und die angrenzenden bewaldeten Berghänge. „Damit ich das richtig verstehe: Zu einem bestimmten Zeitpunkt würden in ganz Deutschland viele Menschen umfallen, weil sie Träger dieser Pumpe sind?“

      „Sie würden es nicht. Sie werden es. Die Spezialisten von DaDia und meine Kollegen aus Wiesbaden arbeiten mit Hochdruck daran, die Geräte über die Fernwartung wieder umzuprogrammieren.“

      „Und wenn sie es nicht rechtzeitig schaffen?“

      Susanne Bordon sieht ihn eindringlich an, sagt aber nichts.

      Adrian Dekker schaut sich um und deutet mit den Händen auf die umgebenden Berge. „Glauben Sie, dass sich Franziska Vaillant hier aufhält?“

      „Hier draußen? In der Wildnis? Eher nicht. Aber anscheinend befinden sich in dieser Gegend entscheidende Hinweise, die zu ihr führen. Denken Sie bitte daran, diese ohne Zeitverzug an mich weiter zu leiten. Frau Vaillant stellt eine große Gefahr für sich und andere dar. Sollten Sie oder ihre Kollegin auf sie treffen, ist sie umgehend an das Landeskriminalamt Wiesbaden zu überstellen. Kann ich mich auf Sie verlassen?“

      „Selbstverständlich, Frau Bordon. Nur stelle ich mir die Frage, was ich mit Ihrer Suche zu tun habe? Oder anders ausgedrückt: Was hat Franziska Vaillant mit Kevin Schulte zu tun? Frau Lensing ist nicht wegen ihr, sondern wegen ihm in dieser Gegend. Und ich wegen einer möglichen Verbindung zwischen diesen beiden Personen, die mir nicht klar ist.“

      „Herr Schulte war meines Wissens ein Sympathisant von Frau Vaillant. Offenbar wurde er für sie überflüssig, aufgrund seiner Kenntnisse sogar gefährlich. Sie hat sich seiner entledigt. Das dürfte ihnen klar machen, wie kaltblütig sie ist. Nur wusste sie nicht, dass er Informationen hinterlassen hat, denen Ihre Kollegin nun nachgeht. Und die zu ihr führen können.“

      Adrian Dekker mustert die steile grüne Wand des Giebels. „Auf was kann Frau Lensing in dieser Gegend stoßen?“

      Susanne Bordon schaut ihn eindringlich an. „Ich weiß es nicht. Denken Sie nur daran: Frau Vaillant ist an mich zu überstellen. Und nun lassen Sie uns zurückfahren.“

      Sie begeben sich zurück zur Bushaltestelle. Adrian Dekker nutzt die Wartezeit, um sich die Wegweiser anzuschauen. In das eine aufsteigende Tal geht es unter anderem zum Prinz-Luitpold-Haus, offenbar der aktuelle Aufenthaltsort von Julia Lensing und ihrer hiesigen ortskundigen Kollegin. In das andere Tal führt der Weg unter anderem zu einer Schwarzenberghütte. Er fragt sich, ob es hier einen schwarzen Berg gibt. Er fragt sich nicht, wer sich dort gerade aufhalten könnte.

      Julia hat sich mit Rosalia im Gastraum des Prinz-Luitpold-Hauses - geduscht, umgezogen und ungestylt - zum Abendessen eingefunden. Es ist zwar nicht Wochenende, aber das trockene Wetter im August sorgt dafür, dass sich über 100 Personen in größeren und kleineren Gruppen und von jung bis alt in dem Raum befinden. Hinzu kommen die, die draußen auf der angrenzenden hinteren Terrasse essen.

      Nachdem die Beiden ihr Abendessen ausgewählt und bestellt haben, stöbert Julia in ihrer Speisekarte, als sie auf ihre Kollegin aufmerksam wird. „Was machst Du da mit Deinem Smartphone? Gibt es irgendetwas Nützliches ohne Empfang?“

      „Ich kontrolliere die Entwicklung meiner Blutzuckerwerte.“

      „Wieso das?“

      „Ich habe Diabetes. Typ 1.“

      „Du hast Diabetes? Schränkt Dich das nicht deutlich ein?“

      Rosalia schmunzelt. „Hast es bisher nicht bemerkt, obwohl wir schon den ganzen Tag zusammen unterwegs sind.“

      Julia lächelt erstaunt zurück. „Stimmt. Ich habe Dich nicht einmal messen oder spritzen sehen.“

      „Das brauche ich nicht. Also fast nicht. Ich habe ein System, bestehend erstens aus einer Pumpe, welche mich mit Insulin versorgt. Sowohl dauerhaft als auch ergänzend bei Bedarf. Die trage ich in dem speziellen Bauchgürtel. Von dort geht ein Schlauch an die Bauchdecke.“ Sie hebt ihr Shirt hoch, dass Julia den Gürtel sehen kann. Der ist so flach, dass er ihr bisher nicht aufgefallen ist. Und das an diesem Körper, wo die kleinste Falte im Shirt auffallen müsste. Rosalia setzt ihre Erklärung fort. „Da sitzt ein Katheder, über den das Insulin in den Körper gelangt. Zweitens habe ich einen Sensor auf der Bauchdecke angebracht. Dort wird kontinuierlich der Blutzuckerwert ermittelt. Die Daten werden an die Pumpe weitergeleitet. Diese reagiert auf bedeutsame Schwankungen oder Entwicklungen. Bedarfsweise wird die Insulindosis erhöht oder abgeschaltet, ohne dass ich etwas veranlassen muss. Nennt sich Close Loop System.“

      „Das arbeitet völlig eigenständig?“

      Rosalia bearbeitet weiter ihr Smartphone. „Nicht ganz. Die Messung bildet den Blutzuckerwert mit einer Verzögerung von einigen Minuten ab und mein Insulin wirkt nicht sofort, sondern über einen Zeitraum von ungefähr drei Stunden. Da das Gerät nicht hellsehen kann, muss ich ab und zu manuell nachsteuern. Zum Beispiel vor unserer Wanderung heute sowie jetzt beim Essen. Ansonsten kann auch das System ein zu hohes Abgleiten nach oben oder unten nicht verhindern.“

      Julia deutet auf das Gerät. „Und wozu das Smartphone?“

      „Die Pumpe ist recht klein und hat daher nur ein kleines Display mit den nötigsten Funktionen. Über die dazugehörige App habe ich mit dem Smartphone mehr Möglichkeiten und Übersichten. Ich kann alles steuern und falle nicht auf. Es sei denn, ich habe keinen Empfang.“ Sie lächelt.

      „Gibt es so etwas schon lange?“

      Rosalia schaltet ihr Smartphone ab. „Nein. Das System, was ich habe, gibt es erst seit wenigen Monaten. Vorher hatte ich bereits eine Pumpe, aber diese ist echt genial. Nennt sich DaDia 1.0, steht für Darmstadt Diabetes.“

      Ein paar Tische weiter sitzt David bei einer Gruppe gleichaltriger Wanderer. Wie üblich fällt es ihm leicht, Kontakte zu anderen zu knüpfen. Er hat ein Gespür, ob er willkommen ist. Meist zeigt sich bei der Begrüßung, ob man unerwünscht ist, so dass die Gelegenheit bleibt, rechtzeitig abzudrehen.

      Zwanglos tauscht er sich mit den anderen am Tisch aus. Es geht – wie so oft – um die Erfahrungen des Tages, die gegangene Strecke oder die Qualität der Hütte, speziell der Nachtlager, des Essens und der Bedienung. Es besteht Einigkeit, dass hier nichts auszusetzen und alles gut durchorganisiert ist. Sie reden über Persönliches, bleiben