Matthias Krügel

Typ 1


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zu sehen, wer hier sonst so sitzt oder geht. An einem Tisch bleibt er hängen. Könnte es sein, dass da die beiden Frauen sind, die hinter ihm auf dem Weg vom Edmund-Probst-Haus hierher unterwegs waren? Zuletzt hat er sie oben vom Laufbacher Eck gesehen, als sie unten vor dem Aufstieg Pause gemacht haben. Die Schwarzhaarige sitzt mit dem Rücken zu ihm, die Blonde mit ihrem Gesicht.

      Er mustert Letztere. Sie gefällt ihm, könnte in seinem Alter sein. Aber er bleibt seinem Grundsatz treu: Auf Hüttentouren Finger weg vom anderen Geschlecht. Das könnte unnötigen Stress verursachen, der bei seinem schönsten und nur selten durchführbaren Hobby zu vermeiden ist. Aber ab und zu schauen darf man ja. Vor allem, als die Schwarzhaarige aufsteht und die Aussicht auf die Blonde frei gibt. Wenn er sich nicht täuscht, wird sein Blick hin und wieder erwidert. Nein, ansprechen wird er sie nicht.

      Rosalia geht kurz zur Theke, weil am Tisch der Pfefferstreuer leer ist. Als sie sich mit einem gefüllten Gefäß wieder umdreht, steht plötzlich ein Mann vor ihr. Sie schätzt ihn auf Mitte 30 in ihrem Alter, mit vollem, dunklen welligen Haar, dunklen Augen und Augenbrauen. Sein ganzes Gesicht lächelt ein wenig verkrampft. Und er sagt nichts, sondern steht nur da. Gespannt sieht sie ihn an.

      „Ja, bitte?“

      Er holt zunächst Luft. „Hallo.“

      „Hallo.“ Höflich lächelt sie zurück. Nichts passiert. „… und?“

      „Sie sind heute ebenfalls gewandert?“

      „Ja.“ Zwinkernd spricht sie weiter. „Und genau genommen gibt es keine andere Möglichkeit, hier hinzukommen.“

      „Entschuldigung, wie blöd von mir. Wahrscheinlich werden Sie morgen auch wieder wandern.“

      „Ja, ich denke, das werden wir machen. Weiß nicht, wie wir sonst hier wegkommen sollen. Oder was machst Du morgen?“ Wie gewohnt, duzt Rosalia ihn wie jeden anderen in den Höhen der Berge.

      „Nein, natürlich gehe ich morgen wandern. Wo gehen Sie hin?“

      Rosalia behält äußerlich ihr freundliches Gesicht bei, aber innerlich schaltet sie auf Alarm. War das wirklich beiläufig gefragt oder clever eingefädelt? Selbst wenn er lediglich ein netter, naiver, anhänglicher Zeitgenosse sein sollte: Es geht ihn nichts an. Außerdem hat sie kein Interesse an einem längeren Gespräch.

      „Ich denke, dass entscheide ich in Ruhe mit meiner Freundin. Möglichkeiten gibt es bekanntlich viele. Wohin wird es bei Dir morgen gehen?“

      „Das weiß ich noch nicht. Mal sehen, wie das Wetter wird.“

      Ihr reicht es. Jetzt bloß kein Gespräch über das Wetter. „Dann schauen wir mal. Ich gehe wieder rüber zu meiner Freundin. Vielleicht sieht man sich morgen.“

      „Ja, vielleicht sieht man sich!“

      Als sie bemerkt, wie er aufblüht, fürchtet sie, in ihm eine überflüssige Hoffnung ausgelöst zu haben. Es lässt sich nicht ändern. Sie nickt höflich und geht an ihm vorbei zurück zum Tisch. Vermutlich wäre er ewig stehen geblieben. Und möglicherweise steht er da weiterhin ohne sie. Sicherheitshalber dreht sie sich nicht ansatzweise in seine Richtung. Julia hat die Begegnung mitverfolgt, aber nichts hören können.

      „Ein Bekannter?“

      „Nein.“

      „Ein neuer Verehrer.“

      „Ich fürchte. Und ich drehe mich lieber nicht um. Kannst Du sehen, was er macht?“

      „Nein. Er ist verschwunden.“

      Lars Boczony spürt als erstes einen Ellenbogen im Rücken, dann hört er die Stimme von Tom Horn. „Was war denn das?“

      Lächelnd dreht er sich um und zuckt mit der Schulter. „Nur eine nette Unterhaltung, eine erste Kontaktaufnahme. Auf diese Weise komme ich an Informationen.“

      Tom Horn zieht ihn aus dem Blickfeld der beiden Frauen. „Und?“

      „Was und?“

      „Erzähl‘, was machen die hier, was haben die als Nächstes vor?“

      „Das weiß ich noch nicht.“

      „Was weißt Du denn?“

      „Sie gehen morgen weiter wandern.“

      Tom Horn wischt sich mit der Hand durch das Gesicht. „Ok, lass gut sein. Essen wir. Am besten draußen. Zum Glück haben die Beiden mich noch nicht gesehen.“

      „Was siehst Du da?“ Rosalia schaut Julia fragend an.

      „Wo?“

      „Du schaust immer in derselben Richtung an mir vorbei.“

      „Ich halte nach unserem Mitwanderer Ausschau.“

      „Immer in derselben Richtung? Sitzt dort jemand alleine?“

      „Nein, da sind überall Wandergruppen, mindestens zwei Leute, aber nie jemand alleine. Schade, dass wir unterwegs nicht näher an ihn herangekommen sind, um ihn jetzt besser erkennen zu können.“

      „Was ist das Besondere an der Gruppe, die Du im Auge hast?“

      „Du bist hartnäckig.“

      Rosalia grinst über beide Ohren. „Ich bin Polizistin.“

      Julia gibt ein kleines Lächeln zurück. „Na gut. Da sitzt einer dabei, der ständig zu mir hinüber schaut.“

      „Das könnte er von Dir auch behaupten. Kann es sein, dass er Dich kennt?“

      „Wüsste ich nicht. Dienstlich ist es ja nur ein Zufall, dass ausgerechnet ich von der Polizei hier bin. Und privat ist er mir unbekannt.“

      „Gefällt er Dir? So rein privat.“

      „Hörst Du mit dem Grinsen auf?“ Dabei kann sich Julia selbst ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Gemeinsam fangen sie an, zu lachen. Dann wechseln sie das Thema.

      Rechtzeitig zur Hüttenruhe richten die beiden Frauen ihre Lager ein. Jede zieht ihren „Hüttenschlafsack“ - welches einem Schlafsack-Inlett entspricht - unter die bereitliegende Decke und über das Kopfkissen. Julia schaut sich zu den Mitschläfern im Raume um, die sich ebenfalls für die Nacht vorbereiten. „Ist Deine Bekanntschaft hier dabei?“

      Rosalia schüttelt den Kopf. „Hier nicht. Zuletzt ist er mir zum Zähneputzen hinterher geschlichen. Aber untergebracht ist er woanders. Und Deiner?“

      „Was heißt hier Deiner? Es geht um die Frage, wer außer uns auf den Spuren von Kevin Schulte unterwegs ist.“

      „Ist klar. Hast Du ihn noch einmal gesehen?“

      „Nein. Er muss ebenfalls in einem anderen Zimmer untergebracht sein. Wann stehen wir auf, wann starten wir?“

      „Pünktlich, würde ich sagen.“

      „Pünktlich. Geht klar, Rosalia.“

      Lachend schlüpfen die beiden in ihre Schlafsäcke und stecken sich Ohrstöpsel ein. Dann sorgen die in dieser Höhe dünnere Bergluft, die heutige Wanderung und das gute Essen dafür, dass es mit dem Schlaf nicht lange dauert.

      Roland Zimmermann sitzt in seinem Büro im Dachgeschoss seines Reihenwohnhauses. Ein schwacher Lichtschein der Abenddämmerung dringt von draußen durch das kleine Dachflächenfenster hinein. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist der Bildschirm des Laptops. Den Kopf in seine Hände gestützt, liest er sich immer wieder die Zeilen der Internetseite durch, die er gestern Nachmittag gefunden hatte. Und vor allem den Schlüsselsatz: Die festgestellten Zusammenhänge werden im Rahmen von Gegenimpfungen überprüft.

      Wie geplant, hat er heute bei dem Institut für innovative Heilmethoden angerufen. Während des Vormittages konnte er sich in einen entlegenen Bereich des Betriebes zurückziehen und hat die auf der Internetseite