Peter Gnas

Schlussstein


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Hamm war damals von dem plötzlich veränderten Ton und dem milden Verhalten verdutzt. Skeptisch sah sie ihn an. Er bemerkte das. Dachte sie womöglich, dass er die späte Stunde zu zweit ausnutzen wolle? Bloß das nicht.

      Rotberg hatte für jede Situation, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte, dieselbe Strategie. Er stellte Fragen. Nach der Familie und Interessen, nach Reisen und Hobbys. Dahinter verbarg er Schüchternheit. Er konnte verebbende Gespräche beleben und manche unangenehme Stille füllen. Menschen sprachen gern von sich. Dass diese Strategie perfekt zu dem Beruf des Kriminalpolizisten passte, war ein Glücksfall.

      An jenem Abend lernte er viel über sie. Auch sie stellte ihm persönliche Fragen. Sie unterhielten sich lange, sie lachten und hörten interessiert zu. Er erfuhr, dass Sabrina Hamm eine lose Beziehung mit einem deutsch-türkischen Mann hatte. Die Verbindung sei nicht besonders tief, weil er ihr als Lebenspartner zu dominant sei. Es gab ihm einen Stich.

      Er erzählte von seiner Frau und den bereits erwachsenen Kindern. Dabei wurde ihm bewusst, dass er dem Alter nach ihr Vater sein konnte.

      Rotberg hatte einige Wochen gebraucht, die schöne Phantasie einer späten Liebschaft loszulassen. Er hatte sie beobachtet, wie sie auf Männer wirkte und es verstand, diese Wirkung einzusetzen. Sie achtete ihn aufrichtig. Ihr Bild von einem Mann an ihrer Seite sah völlig anderes aus. Rotberg spürte genau, wen sie schätzte, welche Menschen ihr nicht gefielen und welcher Typ Mann sie faszinierte. Sabrina Hamms Gegenwart belebte ihn und blieb immer ein wenig prickelnd.

      Jetzt saßen sie im Wagen, sie bugsierte ihn durch die verschiedenen Stadtteile Bremens bis zu dem betroffenen Kindergarten.

      Rotberg musste das Auto abseits abstellen. Er konnte nicht näher heranfahren, weil die Straße mit Trümmerteilen übersät war. Die Lüftung des Autos sog Rauchgeruch ins Wageninnere. Beide blieben einen Moment im Fahrzeug sitzen und ließen schweigend die bizarre Szene wirken. Menschen, die scheinbar ziellos umherliefen, Weinen, Schmerzlaute. Sie sahen den routinierten Tätigkeiten der Feuerwehr zu. Rund um das zerstörte Gebäude standen Krankenwagen und Notarztfahrzeuge. Es kamen laufend neue.

      Die Polizei versuchte die Nachbarn, die zuerst geholfen hatten, mit diplomatischem Geschick von der Unglücksstelle fortzuschicken.

      Sabrina Hamm holte tief Luft und fragte mit zugeschnürter Kehle: „Wollen wir?“ Ihr ging es nicht gut.

      „Wir stehen hier mehr im Wege, als nützlich zu sein. Aber, wir müssen wohl!“

      Auch Rotberg war mulmig zumute. In den langen Jahren der Berufstätigkeit betrat er viele Unglücksstellen. Zu Beginn der Laufbahn bei der Bereitschaftspolizei und später bei der Kriminalpolizei.

      Er hatte verletzte und schockierte Menschen erlebt, hatte Bewusstlose und Tote gesehen. Nach solchen Unglücken haftete der Geruch von Bränden, von verbranntem Fleisch und Blut in seiner Nase. Er hatte nächtelang wach gelegen und die verzweifelten Leute, die nach Angehörigen fragten, vor dem inneren Auge gesehen. Am Anfang richteten ihn die erfahrenen Kollegen auf. Manchmal trank er des Nachts zwei oder drei Schnäpse, damit er wieder einschlafen konnte. Ab und zu hatte es geholfen.

      Am meisten hatte ihm zu schaffen gemacht, wenn er unvermittelt vor einem Toten oder Schwerstverletzten stand. Beim Öffnen einer Tür, beim Hochheben eines Trümmerteils oder Durchsuchen eines Gebüsches. Dann fuhr ihm der Schreck direkt in den Magen, das ein oder andere Mal so heftig, dass er sich übergeben musste. Dafür hatte er sich geschämt. Trotz der Zusicherung einiger Kollegen, dass man sich dafür nicht schämen müsse, spürte er genau, dass es unter ihnen genügend Männer gab, die ihn für zu weich hielten. Später bei der Kriminalpolizei vermied er es, an solchen Plätzen voreilig jedes Stück Holz anzuheben. Das überließ er den Leuten von der Spurensicherung oder der Bereitschaftspolizei.

      Je dichter sie dem zerstörten Gebäude kamen, desto schwieriger wurde das Gehen und umso intensiver waren die Eindrücke. Es gab kleine Ecken, in denen es brannte oder gebrannt hatte. Die Feuerwehr, die zuerst vor Ort war, hatte bereits die stärksten Brände gelöscht. Auf den Trümmern riefen erwachsene Personen verzweifelt Namen: Levi, Marie, Isabella, Oskar. Vermutlich Kindernamen. Er dachte an die eigene Enkeltochter Ella. Er hatte gestaunt, dass ein Kind von heute einen so traditionellen Namen trug. Ella hießen für ihn ältere Damen.

      Rotberg bat Sabrina Hamm, die Forensik anzurufen. Im Augenblick beschäftigte sich die Feuerwehr noch mit der Bergung. Sie würden ihre Experten auch bald vor Ort haben, um nach den Ursachen zu forschen. Während sie telefonierte, bedeutete er ihr, dass er zu dem Feuerwehrmann gehe. Dessen Gesicht erkannte er gleich, er hatte aber vergessen, wie er hieß.

      Der begrüßte ihn mit einem festen Händedruck: „Moin, Herr Rotberg!“

      Mist, der Mann erinnerte sich an ihn – er musste fragen. „Tut mir leid, mir fällt nicht mehr ein, wie Sie heißen. Es ist schon ein Jahr her, oder?“

      „Timm, Günter Timm!“

      „Klar, richtig. Herr Timm“, sagte er, als sei es ihm gerade erst entfallen. „Sind Ihre Brandermittler bereits hier?“

      „Nein“, wehrte der Feuerwehrmann ab, „wir suchen und bergen ja noch. Es sollten jetzt bald Spürhunde eintreffen. Vermutlich gibt es einige verschüttete Personen.“

      „Wissen Sie, ob es Tote gab?“

      „Ja, wie viele kann ich im Moment nicht sagen und natürlich auch nicht, ob Menschen vermisst werden.“

      „Gab es Kinder unter den Opfern?“

      „Ja“, antwortete Timm knapp. „Leider.“

      Sabrina Hamm trat zu ihnen. „Die Spurensicherung ist unterwegs“, sagte Sie an Rotberg gewandt. Sie gab dem Feuerwehrmann die Hand: „Herr Timm, oder?“

      Der nickte.

      „Sabrina“, bat Rotberg, „sei so gut, sorge dafür, dass alle Toten in die Gerichtsmedizin gebracht werden.“

      „Ist veranlasst – es sind Fahrzeuge auf dem Weg.“

      Rotberg fragte Timm, ob er eine Idee habe, was geschehen sein konnte.

      „Möglicherweise eine Gasexplosion“, antwortete der, „wir haben bisher keine Pläne des Kindergartens eingesehen. Die Leiterin hat uns gezeigt, wo die Küche stand und wo die Heizanlage. Es wurde mit Gas gekocht und geheizt. Der Haupthahn ins Gebäude wurde von unseren Männern freigelegt. Gott sei Dank ist er funktionsfähig. Die Stadtwerke sind verständigt – ein Trupp sollte unterwegs sein, um die Hauptleitung zu schließen.“

      „Wir wollen die Kindergartenleitung sprechen, wissen Sie, wo sie ist?“

      Timm schüttelte den Kopf: „Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden – sie war äußerlich nicht verletzt, hatte aber einen Zusammenbruch, nachdem sie begriff, was geschehen war.“

      Rotberg, Sabrina Hamm, Timm und der stellvertretende Einsatzleiter der Feuerwehr besprachen das gemeinsame Vorgehen. Es wurden weitere Kollegen der Kriminalpolizei angefordert. Beamte in Uniform und in Zivil sprachen mit den umstehenden Menschen. Sie nahmen Personalien von denen auf, die im Moment nicht in der Lage waren zu sprechen. Erstarrt schauten die Augenzeugen, wenn ein Sarg an ihnen vorbeigetragen wurde. Sie versuchten einen Blick auf die zu werfen, die verletzt in einen Krankentransporter getragen wurden.

      Die Eltern, die ihr Kind noch nicht gefunden hatten, probierten immer wieder in die Ruinenlandschaft zu gelangen. Polizei, Feuerwehr und die mittlerweile eingetroffenen Krisenhelfer bemühten sich Väter, Mütter und Großeltern fernzuhalten. Niemand wollte riskieren, dass ein Angehöriger sein schwerverletztes oder gar totes Kind in den Trümmern entdeckte.

      Innerhalb einer Stunde war die Szene mit unzähligen Helfern gefüllt. Die ersten Suchhunde trafen ein und machten sich sofort an die Arbeit. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk hatten schweres Gerät herangeschafft. Von den Rändern der Unglücksstelle her, versuchte man größere Gesteinsbrocken beiseitezuschaffen. Dort, wo ein Hund anschlug, wurden mit einem Schwerlastkran aus sicherer Entfernung Steine angehoben.

      „Es muss jemand mit den Journalisten reden“, meinte Rotberg.