Peter Gnas

Schlussstein


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Vor dem inneren Auge sah er seine Ohren rot leuchten. Je mehr er versuchte dieses Gefühl zu verbergen, desto stärker wurde es. Ihm half nur die Flucht nach vorn. Er erzählte Jutta alles über die Kollegin, er gestand ihr, dass sie ihm auf Anhieb gefallen hatte und er sich das nicht eingestehen wollte.

      Jutta hatte das geahnt – dafür liebte er sie. Sie war der Heimathafen, es gab keinen zweiten Menschen auf der Welt, den er mehr brauchte. Wenn sie sagte, dass er seine Freundschaften pflegen solle, war er verwundert. Sie war alle Freundschaft, die er anstrebte. Die Erotik hatte im Laufe der Zeit abgenommen, andere Dinge des Lebens gewannen an Bedeutung. Das Haus. Die Sorge um die Kinder und die Liebe zu ihnen. Die Ausbildung der beiden. Schließlich zog Fabian zuerst aus, zwei Jahre später Nadine. Sie mussten wieder neu lernen, als Paar miteinander auszukommen.

      Dann stand plötzlich Sabrina Hamm vor ihm. Es hatte ihn erwischt wie ein Schmiedehammer. Er durchlebte und durchlitt die Gefühle einer unerfüllten Leidenschaft. Er hatte versucht, es zu unterdrücken. Aber Erotik ist ein mächtiger Begleiter. Schon mancher brave Ehemann hatte Hals über Kopf das bisherige Leben hingeworfen. Für einige flüchtige Wochen viel riskiert und alles verloren, was ihm bis dahin Stabilität gab. Im Extremfall konnte daraus ein Fall für seine Mordkommission werden.

      Bei aller Scham Jutta gegenüber überwog die Erleichterung. Zunächst zögerte er, dann sprudelte es aus ihm heraus. Sie blieben nach dem Essen sitzen. Er hatte eine Flasche Wein geöffnet, die sie im Laufe des Abends leerten. Er vertrug kaum noch Alkohol. Beim zweiten Glas war er nicht mehr vollständig Herr seiner Zunge. Schließlich gingen sie ins Bett. Sie ließen das Geschirr mit den mittlerweile angetrockneten Speiseresten auf dem Tisch stehen. Es würde am anderen Morgen in der ganzen Wohnung danach riechen. Er versprach ihr, früher aufzustehen, alles wegzuräumen und den Frühstückstisch zu decken. Sie lagen nebeneinander. Jutta rollte sich zu ihm hinüber. Die Erleichterung darüber und der Wein ließen ihn schnell einschlafen.

      Sabrina Hamm und Rotberg erreichten das Krankenhaus Bremen-Ost. Er hoffte, dass es ihnen gelingen würde, mit einer Mitarbeiterin des Kindergartens zu sprechen. Die verletzten Kinder lagen im Klinikum Mitte. Eine der vorrangigsten Aufgaben Wesselmanns würde es sein, sie und die Eltern zusammenzubringen.

      Rotberg hatte Glück, in der Klinik lag Rose Stein, die Leiterin der Kindertagesstätte und Rainer Wenzel, einer der ganz wenigen männlichen Erzieher. Es gab Menschen, die warf so ein Unglück lebenslang aus der Bahn. Zu denen gehörten diese beiden, laut Auskunft der Ärzte nicht. Rose Stein war eine Frau, die das Ereignis mit einer psychologischen Aufarbeitung gut bewältigen würde. Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt wollte Rotberg aber noch einen Tag warten, bevor sie mit ihr sprachen.

      Rainer Wenzel war ein ausgeglichen wirkender Mann von Mitte vierzig. Einer dieser stabilen Charaktere, die ausreichend psychische Ressourcen besaßen, um solch eine extreme Situation zu verarbeiten. Harmonische Kindheit, Eltern, die ihn die Liebe zu sich selbst gelehrt und ihm die Fähigkeit zum Lösen von Problemen mitgegeben hatten.

      Er war durch herumfliegende Teile am Kopf getroffen worden, das rechte Bein war gebrochen und etliche Prellungen färbten den Körper an vielen Stellen blau. Er war traurig über das, was sich ereignet hatte, beweinte aber nicht das eigene Unglück, er vergoss bittere Tränen um seine Schützlinge. Einige Kinder um ihn herum hatten geschrien, andere waren bewusstlos oder womöglich tot. Durch die Explosion hörte er einen Pfeifton, er nahm alles gedämpft wahr.

      Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt führte man die beiden Polizisten zu ihm ins Zimmer. Rotberg sah ihn weinen und fragte er, ob sie am nächsten Tag wiederkommen sollten.

      Wenzel schüttelte den Kopf, er schnäuzte die Nase: „Geht schon“, meinte er und deutete mit den Händen auf die Stühle.

      Sie nahmen zunächst die Personalien auf. „Wir haben Fragen zum Hergang“, fuhr er fort.

      „Ob ich da viel helfen kann, weiß ich allerdings nicht. Es gab einen Knall und eine gewaltige Druckwelle. Dann brach alles zusammen. Das Nächste, was ich spürte, waren Schmerzen. Von meiner Stirn lief mir Blut in die Augen. Bewegen war unmöglich.“

      „Das, was sich im Moment der Explosion abgespielt hat, können Sie kaum wissen. Was uns hauptsächlich interessiert ist das, was zum Unglück geführt hat.“ Rotberg sah ihn an.

      „Gas?“, fragte Wenzel.

      „Genau das meine ich“, antwortete Rotberg. „Wir denken auch an eine Gasexplosion. Die Küche und die Heizanlage wurden damit befeuert.“

      „Sie wollen wissen, ob ich einen Gasgeruch wahrnahm?“

      Die beiden Polizisten nickten gleichzeitig.

      Der Erzieher schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Dann hätte ich doch sofort reagiert!“

      „Jedes Unglück hat in der Regel mehrere Faktoren, die zusammentreffen müssen, menschliches Versagen gehört zu den häufigsten.“ Rotberg sah ihn an: „Gibt es irgendetwas, das Ihnen vor der Explosion aufgefallen ist? Haben Sie von einer anderen Person von solch einem Vorfall erfahren? Ich meine zum Beispiel einen Ausfall der Heizung oder das es kein warmes Wasser gab. War etwas Ungewöhnliches aus der Küche zu hören? Gab es kurz vorher eine Reparatur an der Heizanlage?“

      Wenzel überlegte. „Nein, nicht, dass ich wüsste! Das ist auch kein Thema in den Teambesprechungen. Wenn etwas kaputt ist, wenden wir uns an Frau Stein, die kümmert sich darum.“ Er sah sie fragend an.

      „Frau Stein ist im Moment nicht ansprechbar, wir befragen sie morgen“, meinte Sabrina Hamm. „Wäre Ihnen ein Handwerker im Haus aufgefallen?“

      „Wenn er laut ist, ja. Oder, wenn ich ihn zufällig im Gebäude herumlaufen sehe. Bei Arbeiten, die in unmittelbarer Nähe der Gruppenräume stattfinden, gehen wir mit den Kindern in den Garten.“ Er maß dem keine große Bedeutung bei.

      Rotberg hakte nach: „Ist Ihnen ein Handwerker aufgefallen?“

      „Im Bereich der Heizung ...“, Wenzel überlegte.

      Er strich mit der Hand über den Mund und wandte sich zum Fenster. Der Himmel war tiefblau. Als ob sie das Unglück verhöhne, schien die Sonne so strahlend, wie man sie eigentlich nur an einem glücklichen Tag wahrnahm. Dieser Gedanke streifte sein Unterbewusstsein. Er ließ die vergangene Zeit vor dem inneren Auge ablaufen.

      „Ja, vor zwei Monaten wurde die Heizanlage gewartet“, er zog die Stirn kraus. „Eine Woche später war dann noch mal ein Monteur da, ein ganz dicker. Ich sah ihn zufällig auf dem Gang und fragte ihn im Vorübergehen, ob etwas kaputt sei. Er murmelte nur vor sich hin. Ich maß dem aber keine Bedeutung bei. Es funktionierte ja alles.“

      „War der zweite Techniker derselbe wie der erste?“, wollte Rotberg wissen.

      „Keine Ahnung“, Wenzel zuckte mit den Schultern. „Ich habe den ersten nicht gesehen. Wir sollten an dem Tag bloß für einige Minuten die Heizkörper runterstellen.“

      „Kennen Sie die Firma, die die Wartungen durchführt?“, fragte Sabrina Hamm.

      „Nein, da müssen Sie auf Frau Stein warten!“ er hob bedauernd beide Hände.

      „Haben Sie mit jemandem über den erneuten Handwerkerbesuch gesprochen?“

      „Nein.“

      „Tja“, Rotberg atmete aus. Er sah fragend zu seiner Kollegin, „das war’s für heute, oder?“

      Sie bestätigte mit einem Nicken.

      „Herr Wenzel, vielen Dank. Wir versuchen morgen mit Ihrer Chefin zu sprechen, sie liegt zwei Stockwerke höher. Wenn sich aus dem Gespräch neue Fragen an Sie ergeben, würden wir gern wieder vorbeikommen.“ Rotberg stand auf.

      „Klar“, der Erzieher streckte ihnen die Hand entgegen. „Ist noch jemand von der Kindertagesstätte hier im Haus?“

      Sabrina Hamm tippte auf ihr Smartphone: „Eine Frau Ewers. Sie ist schwer verletzt und nicht ansprechbar.“

      „Ach du liebe Zeit“, Wenzel wirkte besorgt: „Können Sie etwas