Peter Gnas

Schlussstein


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„Wir wissen, dass die Spezialisten an einer Stelle Hinweise entdeckt haben, die auf Sprengstoff schließen lassen. Ich bin darüber umgehend informiert worden. Ich konnte nicht fassen, dass es Menschen gibt, die einen Bombenanschlag auf eine Kindertagesstätte verüben. Wie auch Ihnen, fielen Polizeipräsident von Berghausen und mir in unserem Telefonat sofort die üblichen Kandidaten ein: Islamisten oder politisch Radikale.“

      Franke machte eine Geste zu einem Mitarbeiter, der zu dem Laptop ging, das auf einem Sideboard stand.

      „Vor etwa einer Stunde rief mich Claus Bergmeister, der Chefredakteur von Radio Bremen, an und spielte mir die Aufnahme vor, die wir gleich hören.“

      Der Senator nickte zu dem Mann am Computer. Der startete die Audiodatei. Es war die Stimme eines Mitarbeiters vom Sender sowie die des Anrufers. Dessen Stimme klang technisch verzerrt. Er hatte offenbar Angst davor, identifiziert zu werden.

      „Radio Bremen, Dieter Hensell.“

      „Guten Abend, spreche ich mit einem Redakteur, der über die Explosion am Kindergarten berichtet?“

      „Im Prinzip schon. Worum geht es?“

      „Ich habe eine wichtige Mitteilung. Hören Sie genau zu. Ich möchte, dass Sie das heute Abend in den Tagesthemen senden.“

      „Schau’n mer mal.“ Man konnte dem Tonfall des Redakteurs anhören, dass er den Anrufer nicht sonderlich voll nahm.

      „Sie sollten mich ernst nehmen, guter Mann“, die Stimme bekam Nachdruck.

      „Also, legen Sie los. Ich lasse immer ein Bandgerät mitlaufen – das ist Ihnen recht, oder?“

      „Ich bitte sogar darum. Ich weiß nicht, ob man am Explosionsort schon etwas gefunden hat, das auf eine Bombe schließen lässt. Ich habe heute den ganzen Tag über die Nachrichtensendungen im Radio und im Fernsehen verfolgt. Entweder hat die Polizei noch nichts entdeckt oder sie hat etwas gefunden, aber keine Pressemitteilung herausgegeben. Wie auch immer. Wir haben Sprengladungen im Kindergarten Erdbeerweg deponiert und sie heute Morgen um halb acht per Fernzündung zur Explosion gebracht.“

      Der Redakteur unterbrach ihn: „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder? Komisch ist das nicht.“

      Der Anrufer hob die Stimme und wurde energisch: „Halten Sie bitte den Mund und hören Sie mir zu.“

      „Also weiter“, der Journalist klang genervt.

      „Die Explosion wurde mit Plastiksprengstoff herbeigeführt. Um einen möglichst großen Schaden anzurichten, wurden an zwei Stellen Bomben platziert. Eine bei der Gastherme und die andere dort, wo die Gasleitung in die Küche führt. Wir haben die Bomben bewusst an diesen Stellen positioniert, um die Schäden zu maximieren.“

      „Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem Telefonat bezwecken. Ich habe aber keine große Lust ...“

      Der Anrufer unterbrach in schroff: „Ich hatte gesagt, dass Sie den Mund halten sollen!“ Er machte eine kurze Pause. Erkundigen Sie sich bei der Polizei, ob sie Hinweise auf Sprengstoff gefunden hat. Wenn nicht, werden die Experten anhand meiner Angaben schnell etwas entdecken.“

      „Wissen Sie eigentlich, wie es am Explosionsort aussieht? Das wird nicht so einfach sein, dort etwas zu finden.“

      „Natürlich werden die etwas aufspüren.“

      Die Stimme klang kalt und berechnend. Rotberg musste an das Gespräch mit Sabrina Hamm denken. Ein Soziopath? Er sah sie an – sie ahnte wohl, woran er dachte.

      „Jetzt nehmen wir mal an, dass es stimmt, was Sie behaupten. Was ist Ihr Ziel? Gibt es politische Forderungen? Sind Sie Deutscher?“

      Der Anrufer lachte gekünstelt: „Sie meinen, ob ich Islamist bin. Nein.“

      „Wenn es sich heute tatsächlich um einen Anschlag gehandelt hat und Sie wirklich dahinter stecken, müssen Sie doch Ziele haben.“

      „Lassen Sie die Konjunktive. Erstens war es eine Bombenexplosion. Zweitens wurde sie durch uns ausgelöst.“

      „Wer ist wir?“

      „Verdammt noch mal, Sie hören zu, ich rede! Natürlich haben wir ein Ziel – ein einziges, ganz banales Ziel. Wir wollen Geld! Viel Geld!“

      „Wie viel?“

      „Einhundert Millionen Euro.“

      Es entstand eine Pause. Der Redakteur überlegte wohl, wie es weitergehen kann.

      „Wer soll die Summe bezahlen?“

      „Ist mir völlig egal. Sie? Die Stadt? Die Republik? Der amerikanische Präsident? Vollkommen gleichgültig“.

      „Ihren Namen verraten Sie mir nicht zufällig, oder?“

      Der Anrufer lachte rau.

      „Wie geht es jetzt weiter?“

      „Sie spielen der Polizei das Band vor. Hat die bisher nichts gefunden, wird Sie, da bin ich ganz sicher, aufgrund unseres Telefonats zum Erfolg kommen. Bis zu den Tagesthemen ist ja noch Zeit. Ich möchte, dass die entscheidenden Passagen dieses Gesprächs gesendet werden. Sonst bleibt es ungemütlich.“

      „Zünden Sie dann eine weitere Bombe?“

      „Wie sagten Sie und Franz Beckenbauer: Schau’n mer mal!“

      Es knackste in der Leitung. Der Redakteur fragte in die unterbrochene Verbindung: „Hallo?“

      Das Telefonat war beendet. In den Gesichtern am Tisch war bereits während der Wiedergabe jede denkbare Emotion abzulesen: Skepsis, Überraschung, Ungläubigkeit, Entsetzen. Jetzt herrschte Schweigen. Was konnte man sagen?

      Rotberg hob die Hand und redete sofort los: „Wir waren bis eben unterwegs“, damit machte er eine Handbewegung zwischen Sabrina Hamm und sich. „Wir haben uns in der Klinik mit der Kindergartenleiterin unterhalten. Hiervon wussten wir nichts. Was ich natürlich zuerst wissen möchte: Hat man an der Stelle, an der die Küche war, einen weiteren Hinweis auf einen Sprengsatz gefunden?“

      Rotberg sah seine Leute an, den Polizeipräsidenten und den Senator.

      Polizeipräsident von Berghausen hob kurz die Hand: „Darf ich?“

      Senator Frank gab ihm mit einer Geste das Wort.

      „Ja, wir haben Hinweise auf eine zweite Explosionsstelle entdeckt. Wir und die Spezialisten der Feuerwehr hätten das auch ohne das Telefonat gefunden, allerdings nicht mehr heute.“

      „Das bedeutet dann doch, dass der Anrufer authentisch ist, oder?“, fragte Rotberg.

      „Bei aller Vorsicht, davon müssen wir ausgehen“, antwortete der Senator.

      Eine solche klare Aussage aus dem Munde des Innensenators der Freien Hansestadt Bremen wischte die letzten Zweifel aus den Gesichtern der Skeptiker. Die einen schwiegen betreten, andere murmelten etwas zu ihren Sitznachbarn. Niemand wusste im Grunde, wie man beginnen sollte.

      Sabrina Hamm räusperte sich und hob die Hand.

      „Für alle, die mich nicht kennen, mein Name ist Sabina Hamm, ich arbeite im Team von Polizeihauptkommissar Rotberg. Nachdem wir heute im Erdbeerweg dabei waren, als die ersten Hinweise auf eine Bombe zutage kamen, sind Herr Rotberg und ich zum Klinikum Ost gefahren. Auf der Fahrt dahin haben wir überlegt, wer hinter so einem Anschlag stecken könnte. Im Laufe des Gesprächs fiel irgendwann das Wort Soziopath. Ich sehe, dass Herr Sikorski in der Runde sitzt. Was sagen Sie dazu?“

      Der Angesprochene setzte sich sofort aufrecht in den Sessel. Dr. Hans-Werner Sikorski war selbstständiger Psychologe und Therapeut. Er arbeitete regelmäßig für die Ermittlungsbehörde als Berater und Fallanalytiker sowie gelegentlich als Gutachter in Gerichtsverfahren. Ein schlanker, hochgewachsener Mann von Ende fünfzig mit grauem, immer noch vollem Haar und tief eingeschnittenen Lachfalten um die Augen. Er trank einen Schluck Wasser, bevor er antwortete: „Frau Hamm, da haben Sie mich kalt erwischt. Sie wissen ja“, sagte er in die Runde, „Psychologen und Rechtsanwälte