Peter Gnas

Schlussstein


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gingen mir parallel die Bilder von heute durch den Kopf. Die kühle Rationalität in der Stimme und die grauenvolle Tat – ich denke ganz ähnlich wie Sie.“ Dabei sah er Sabrina Hamm direkt an.

      Rotberg bemerkte diesen Blick. Sikorski war trotz seines Alters ein ausgesprochener Frauentyp – attraktiv, intelligent und charmant. Und er kannte seine Wirkung auf Frauen sehr genau. Rotberg fühlte sich solchen Männern gegenüber stets ein wenig unterlegen. Er zwang sich, gedanklich beim Fall zu bleiben.

      „Ich kann kein Gutachten aus der Hüfte schießen“, fuhr Sikorski fort, „ich spüre aber die Gefährlichkeit, die in dieser Stimme liegt.“

      „Würden Sie sagen, dass er ein Einzeltäter ist?“, fragte Wesselmann.

      Der Psychologe dachte nach. Er ließ sich so viel Zeit, dass die, die gerade etwas auf ihrem Block notierten, aufsahen, um zu sehen, ob Sikorski die Frage gehört hatte. Das hatte er und legte sich offenbar die nächsten Worte zurecht.

      „In der ersten Betrachtung weiß ich es nicht – mein Wissensstand ist der gleiche wie der Ihre.“ Er machte erneut eine Pause. „Während die Aufnahme lief, habe ich an der Stelle, als er die Forderung von einhundert Millionen Euro stellte, darüber nachgedacht, wie groß wohl die Menge Geld in Kilogramm und Volumen sein muss. Er wird ja nicht alles in Fünfhundert-Euro-Scheinen nehmen wollen – wenn er überhaupt Bargeld fordert.“

      Sikorski sah, dass sich einige Personen Notizen machten. Wahrscheinlich würden Sie das am nächsten Tag recherchieren.

      „Gehen wir mal davon aus, dass er keinen Scheck nimmt, sondern Bares will. Das wird vermutlich viel Gewicht und Volumen sein. Das Geld lässt sich nicht in einer Tüte in einem Papierkorb deponieren und der Täter kann damit nicht spurlos untertauchen.“

      Die Anwesenden dachten darüber nach. Der Senator beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte seine gefalteten Hände ans Kinn – er konzentrierte sich auf Sikorski.

      „Für diese Menge an Geld braucht er eine gewisse Logistik.“ Der Psychologe sah in die Runde. „Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei der Geldübergabe festgenommen wird, ist hoch. Wenn er so klug ist, wie er sich am Telefon angehört hat – das würde übrigens für ein Soziopathen sprechen“, sagte er an Sabrina Hamm gewandt, „dann wird er Vorsorge treffen müssen. Ich habe mich gefragt, was er machen wird. Die einzige Möglichkeit, die ich im Moment sehe: Er agiert nicht allein. Mindestens eine weitere Person ist seine Versicherung.“

      Im Raum war es jetzt ruhig. Senator Frank durchbrach das Schweigen: „Wie machen wir weiter“, fragte er in die Runde. „Ich habe Radio Bremen gegenüber nichts von den Spuren einer Bombe bestätigt. Der Sender wird diesen Anruf wahrscheinlich auch ohne unsere Bestätigung veröffentlichen. Wir können uns alle vorstellen, welche Welle dann über uns hereinbricht.“

      Rotberg meldete sich zu Wort. „Nur mal hypothetisch – wenn das Fernsehen die Meldung veröffentlicht, könnten wir Stillschweigen darüber bewahren, dass wir etwas gefunden haben. Wir behaupten, dass wir diesen Anruf sehr ernst nehmen, dass wir aber noch mit der Bergung von Personen beschäftigt sind. Wir hätten bisher nicht nach der Ursache der Explosion gesucht.“

      „Wird er das glauben? Und was ist, wenn nicht?“, fragte der Polizeipräsident.

      „Ich bin davon überzeugt, dass er bei der Kaltschnäuzigkeit einen weiteren Anschlag geplant hat“, antwortete Rotberg, „vielleicht gewinnen wir dadurch Zeit.“

      „Zeit, wofür?“, wollte von Berghausen wissen.

      „Um alle Kindergärten zu schließen und zu durchsuchen.“

      „Geht das?“, fragte der Senator den Polizeipräsidenten.

      Der überlegte. „Wenn wir sofort damit beginnen“, meinte er unsicher.

      Wesselmann war skeptisch: „Ich bin mir nur nicht sicher, ob er uns zum einen glaubt, dass wir noch nichts entdeckt haben und zum anderen, ob er sich bei einem neuen Anschlag auf Bremen oder auf Kindergärten beschränkt.“ Er machte eine Pause: „Wir gehen ein hohes Risiko ein. Dass der Täter zu allem entschlossen ist, hat er längst bewiesen.“

      Mit dieser Bemerkung hatte Wesselmann das kleine Flämmchen Hoffnung in manchen Köpfen ausgetreten.

      Polizisten sind skeptische Menschen, dachte der Psychologe. Ihm war es bewusst geworden, als er einmal in eine Gruppe von Polizeibeamten trat, die ihn nicht kannten. Er wollte bloß nach einem Zimmer fragen. Was ihm entgegenwehte, war tiefes Misstrauen, was er, Sikorski, für ein Typ sein könnte. Gut oder böse. Der Beruf zerstört die Chance, jemals wieder vorurteilsfrei auf einen fremden Menschen zuzugehen. Ein Polizist hat stets seine Verteidigung im Hinterkopf. Auch er hatte durch die ständige Nähe zu brutalen Verbrechen irgendwann bemerkt, dass er begann, einzelne seiner Patienten als mögliche Gefahr für andere zu betrachten. Wesselmann hatte aber absolut recht.

      „Was Sie sagen, Herr Wesselmann, ist vollkommen richtig. Wir wissen nicht, was er vorhat. Einen Bluff wird er sich nicht bieten lassen. Ob wir ihm einen Tag Zeit abringen können, ist auch unklar. Wenn wir morgen früh allerdings alle Kindertagesstätten sperren, kann dort wenigstens niemandem etwas passieren.“

      „Ich möchte mich, wenn Sie gestatten, gern in die Diskussion einklinken“, Jan Hofeld vom BKA schaute zuerst den Psychologen und dann Senator Franke an. „Ich würde gern eine Bewertung dessen vornehmen, womit wir es zu tun haben. In meinen Augen ist dies kein gewöhnliches Verbrechen. Es ist ein Gewaltakt, der sich gegen die gesamte Gemeinschaft richtet. Der oder die Täter haben zwar keine politischen Forderungen gestellt, trotzdem ist es ein terroristischer Anschlag gegen die Bundesrepublik Deutschland. Geben wir nicht nach, kann es morgen jeden Einzelnen von uns treffen.“

      In diesem Moment betrat Bürgermeister Cleve den Raum. Er gab ein Zeichen, dass er nicht unterbrechen wolle und ging direkt zu dem freien Stuhl neben Senator Franke.

      „Im Augenblick können wir nur bis zu den Tagesthemen planen. Entweder wir verhängen eine strikte Nachrichtensperre oder wir bestätigen die Meldung. Wenn wir bestätigen, werden wir morgen früh eine andere Gesellschaft vorfinden. Eltern werden ihre Kinder nicht mehr zum Kindergarten oder in die Schule schicken. Viele Bürger fahren nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln – jeder denkt an die Anschläge von Madrid und London. Es wird Tausende geben, die zu Hause bleiben. Verhängen wir eine Nachrichtensperre, wissen wir nicht, was geschehen wird“, endete Hofeld.

      „Ich frage nochmals in die Runde“, sagte Rotberg, „was ist, wenn wir die Nachricht laufen lassen? Wenn der Innensenator im Fernsehen erklärt, dass die Bergung der Opfer nicht abgeschlossen sei. Das demzufolge bislang keine Ursachenforschung betrieben worden sei.“

      „Gestatten Sie mir eine Bemerkung“, der Bürgermeister, der im Stadtstaat Bremen zugleich Chef der Landesregierung ist, hatte sich von seinem Platz erhoben. „Ohne die versammelte die Kompetenz infrage stellen zu wollen, habe ich in der Zwischenzeit den Bundesinnenminister, den Bundeskanzler sowie den Generalbundesanwalt informiert. Der Innenminister hielt sich zu einem Kongress in Hamburg auf und wird in der nächsten halben Stunde eintreffen. Der Generalbundesanwalt ist ebenfalls auf dem Weg, er wird aber erst um elf Uhr hier sein.“

      Hans-Werner Sikorski hob die Hand: „Eine Zwischenfrage beziehungsweise eine Anmerkung, Herr Bürgermeister?“

      „Bitte.“

      „Beim Betreten des Gebäudes ist mir aufgefallen, dass auf dem Parkplatz ein Team von Radio Bremen damit beschäftigt war, das Equipment auszuladen. Wenn gleich der Bundesinnenminister erscheint, wird das den Journalisten nicht entgehen und sie werden sie das als Bestätigung interpretieren.“

      „Herr ...“, Bürgermeister Cleve sah den Psychologen mit einem fragenden Gesichtsausdruck an.

      „Sikorski, Dr. Hans-Werner Sikorski, ich bin in meiner Rolle als Fallanalytiker dabei.“

      „Herr Dr. Sikorski, ich glaube kaum, dass es gelingt, den Hintergrund eines solchen Ereignisses geheim zu halten. Ich bin ein alter Sozialdemokrat und habe stets versucht, die Nähe zu den Bürgern zu wahren. Ich lasse mich nie von