Peter Gnas

Schlussstein


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Schwerstverbrecher zu tun. Als Vertreter der Menschen haben der Innensenator und ich die Aufgabe, deren Interessen und vor allem ihr Leben zu schützen.“

      „Herr Bürgermeister, verstehen Sie mich bitte nicht falsch“, meinte der Psychologe, „ich sehe es so wie Sie.“ Sikorski fasste nochmals kurz seine Gedanken von vorhin zusammen.

      „Verstanden“, sagte Cleve, „wenn ich Sie richtig interpretiere, gehen Sie davon aus, dass der Täter damit rechnet, bei einer möglichen Geldübergabe identifiziert zu werden. Und dass er für diesen Fall einen weiteren Anschlag plant. Ihrer Ansicht nach sollten wir zahlen und zusehen, wie der Mörder verschwindet?“

      „Ich weiß, es ist immer einfach, über das Geld anderer Leute zu verfügen. Wenn wir allerdings kein Risiko eingehen wollen, ist es die einzige Option.“

      Die Debatte entwickelte sich, nach und nach kamen die übrigen Teilnehmer zu Wort. Es wurden alle Möglichkeiten beleuchtet und bewertet. Es gab die Hardliner, die mit Terroristen nicht zu verhandeln gedenken. Diejenigen, die auf keinen Fall ein Risiko eingehen wollten. Und es gab einige Ideen und verschiedenste Taktiken, wie man den Täter festsetzen könnte. Am Ende stand jedoch die Frage, ob es einen Mittäter gab und wie der sich verhalten werde, wenn man den anderen festnahm.

      Carola Menge meinte, man könne den Täter bei der Geldübergabe ohne Wenn und Aber erschießen oder es zumindest kommunizieren. Schließlich sei er brandgefährlich. Für einen möglichen Komplizen würde es keinen Sinn ergeben, weiterzumachen. Sie merkte an verschiedenen Reaktionen, dass einige der Anwesenden diesen Vorschlag im Stillen ebenfalls erwogen hatten. Niemand wollte ihn allerdings aussprechen. Für die Polizei ist eine Situation, in der sie sich einem zutiefst bösartigen Verbrecher gegenübersieht, manchmal unerträglich. Ihren Eid auf die rechtsstaatlichen Prinzipien erleben einige Polizisten dann als Fessel. Am Ende stehen hilfloser Zorn und die Hoffnung, dass wenigstens die Justiz kompromisslos sein möge.

      „Ich glaube nicht, dass es mehr als zwei Menschen gibt, die einen derart perfiden Plan verfolgen“, glaubte Carola Menge.

      „Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen“, erwiderte Sikorski. „Denken Sie an den Terrorangriff in New York – neunzehn Täter, die ihr Ziel verfolgten, ohne dass etwas nach außen drang. Sie waren durch Fanatismus aneinander gebunden. Auch in unserem Fall genügt ein starker Charakter, der andere mental an sich bindet oder sie unter Druck setzt.“

      So entschlossen auch einzelne Pläne vorgetragen wurden, hätte man den Urheber einer Idee gefragt, ob er die Verantwortung für die Durchführung übernähme; am Ende hätte wohl jeder gekniffen. Im Stillen hoffte man auf eine Entscheidung von ganz oben. Es war für viele Teilnehmer der Runde ein Lichtblick, als der Bundesinnenminister Volker Offenbach den Raum betrat. Er kam in Begleitung des Staatssekretärs Mathias von Einhofen.

      Man rückte am Tisch um zwei Plätze nach außen, damit die beiden Herren neben dem Bürgermeister sitzen konnten. Es war erstaunlich, wie selbstverständlich solche Rangordnungen heute noch in einer parlamentarischen Demokratie funktionierten. Keiner im Raum kam auf die Idee, einen Bundesminister an das andere Ende des Tisches zu setzen. Rotberg beobachtete diese Konsenshandlung und rückte zwei Stühle weiter.

      Rotberg war dem Innenminister bereits einmal während eines Empfangs im selben Haus vorgestellt worden. Der Minister würde sich nicht an ihn erinnern. Er hatte in der flüchtigen Begegnung mit Offenbach gespürt, dass von diesem Mann Macht ausging. Im Grunde ließ sich nicht erklären, warum manche Personen einen Raum für sich einnehmen, wenn sie ihn betreten. Mit anderen Leuten führte man ein halbstündiges Gespräch und hatte sie am anderen Tag vergessen.

      Er hatte am folgenden Morgen mit Jutta darüber gesprochen. Sie hatte gescherzt, dass er ihr schließlich auch aufgefallen sei, als er die Gaststätte betrat, in der sie ihn kennengelernt hatte. Ein junger, sportlicher Kerl. Rotberg sehnte sich in diesem schwierigen Moment im Hause des Innensenators nach der Berechenbarkeit seines Heims und der Vertrautheit mit Jutta. Am liebsten wüsste er nichts von dem Sumpf und andere Menschen würden für ihn die Dinge zum Guten wenden. Er wurde aus den Gedanken gerissen, als der Innensenator sich erhob und den Minister offiziell begrüßte.

      Der Senator gab einen Überblick über die Situation und verschiedene Optionen, die erörtert worden waren. Der Innenminister und der Staatssekretär machten sich während des Vortrags Notizen.

      So funktionierte das Regieren, dachte Rotberg. Die Entscheidungsträger hören die Essenz dessen, was zwei oder drei Ränge darunter besprochen wurde. Sie beraten sich und sind dann mental in der Lage eine Entscheidung zu fällen.

      Deshalb hatte er, Rotberg, es bis wenige Jahre vor der Pensionierung zwar bis zur Position eines Polizeihauptkommissars gebracht – aber nicht weiter. Er war im Stande die Entscheidungen des Berufsalltags zu verantworten. Manchmal allein, ein anderes Mal nach Rücksprache mit einem Vorgesetzten. Im Tagesgeschäft versuchte er, einen Konsens mit den Kollegen zu erreichen. Er ertrug es nicht, bei ihnen als autoritärer Chef zu gelten. Da war seine Grenze. Er hatte sich damit arrangiert, das war für ihn die Möglichkeit ein gelungenes Leben zu führen.

      Bewusst wurde ihm seine Begrenztheit immer dann, wenn er wirklich machtvollen Persönlichkeiten gegenüberstand. In jungen Jahren hatten ihm solche Menschen durch ihre bloße Anwesenheit Angst bereitet. Das war heute anders – aus der Furcht war Achtung vor der Lebensleistung dieser Leute geworden. Ganz tief im Inneren jedoch, wünschte er, auch ein wenig mehr Machtwillen besessen zu haben.

      Als Innensenator Franke geendet hatte, bedankte sich der Minister. Er sah auf die Notizen und stellte an einzelne Anwesende Fragen. Er wollte wissen, wer dieses und jenes vorgeschlagen oder erwogen hatte. Dann richtete er diese Person gezielte Nachfragen. Ohne dass er sich äußerte, war greifbar, welchen Gedanken er für beachtenswert hielt und was er im Kopf sofort verwarf. Man sah ihn entweder etwas notieren oder einen seiner Aufschriebe durchstreichen. Für die Nachfragen benötigte er etwa fünfzehn Minuten.

      Er blickte auf die Uhr und sah den Staatssekretär an. Er fragte ihn, ob er weitere Informationen benötige. Der verneinte. Daraufhin bat Minister Offenbach, mit Bürgermeister Cleve, Senator Franke, dem Polizeipräsidenten, dem Staatssekretär, mit Dr. Sikorski und mit Rotberg, im kleinen Kreis sprechen zu können.

      Rotberg klopfte das Herz bis zum Hals, er fühlte, dass er leicht errötete. Im Aufstehen sah er Sabrina Hamm an. Er zog kurz die Augenbrauen hoch. Sie bemerkte dessen Anspannung und strich ihm fast unmerklich über den Unterarm.

      Zwanzig Monate zuvor – Hamburg, Montag 16. Juli 2007

      Joachim Lenz war neununddreißig Jahre alt, geboren in Stade, alleinstehend, Beruf: Bauingenieur. Studium an der Hochschule für Technik in Stuttgart, Fachbereich Bauingenieurwesen, das Diplom hatte er vor elf Jahren mit der Note Eins erworben. Lenz arbeitete in einem Planungsbüro für technische Gebäudeausrüstung in Hamburg als Projektleiter.

      Er war attraktiv, sportlich und kam bei Frauen gut an. Er hatte es nicht nötig, sich zu binden und ging dem aus dem Weg. Er liebte das andere Geschlecht nicht, er wollte Sex. Und zwar auf seine Art. Es war ihm völlig egal, wie es der jeweiligen Partnerin ging, wenn er immer wieder extreme Sexualpraktiken von ihr einforderte. Wichtig war, dass es ihn aufgeilte. Frauen, die sich alles bieten ließen, nur dafür, dass er in ihrer Nähe war, verachtete er am meisten.

      Sah eine passabel aus, zeigte Lenz sich auch mal in der Öffentlichkeit mit ihr. Er genoss es, wenn er für die hübsche Begleitung bewundert wurde. Fing eine an über eine Zukunft mit ihm zu sprechen oder wollte womöglich Kinder, wurde sie zum Teufel geschickt.

      Er hatte darauf geachtet, dass er keine Affäre mit einer Kollegin anfing. Berufliches Vorankommen war die Hauptsache, da kam es nicht infrage, wegen einer Frau Schwierigkeiten zu bekommen. Näherte sich ihm eine am Arbeitsplatz, ignorierte er sie.

      Im ersten Unternehmen, in dem er nach dem Studium zu arbeiten begann, gab es eine kurze Liebschaft mit der Ehefrau des Chefs. Sie hatte sich förmlich an ihn herangeworfen. Eines Abends hatte der Mann beide erwischt als sie es auf einem Schreibtisch trieben. Das war blöd gelaufen. Eigentlich war es ein vielversprechender Job, eine zügige Karriere schien ihm sicher. Lenz musste gehen