Peter Gnas

Schlussstein


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      Rotberg reichte ihm eine Visitenkarte: „Versprochen! Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Erholen Sie sich, Herr Wenzel.“

      Die beiden verließen das Krankenzimmer. Sie hatten keine Lust aufs Büro und Berichteschreiben. Sie beschlossen, nochmals zu der Unglücksstelle zu fahren.

      Bremen, Montag 09. Februar 2009, 16.40 Uhr

      Mittlerweile hatte sich der Tag dem frühen Abend gebeugt. Ein schneeloser Wintertag, jetzt wurde es recht kühl. Sabrina Hamm saß neben ihm im Auto, sie tippte einige Notizen in ihr Smartphone. Wie so viele der jüngeren Leute hatte sie eine große Fingerfertigkeit im Umgang mit diesen Dingern. Er störte sie nicht beim Tippen. Ab und zu stellte sie eine Frage über das soeben geführte Gespräch mit Wenzel, dann schrieb sie weiter. Sie nutze solche Fahrten, um wenigstens schon einiges für den Bericht erledigt zu haben.

      Rotberg sah, dass die meisten Menschen so einen Apparat benutzten. Selbst Wesselmann hatte sich bereits einen zugelegt. Er tippte und strich ständig darauf herum. In manchen Besprechungen war Rotberg genervt darüber, dass jeder mit seinem Telefon befasst war. Sicher, es war praktisch, wenn man mal schnell ins Internet gehen konnte, um etwas nachzuschauen. Er hatte aber oft den Eindruck, dass die Mitarbeiter nicht bei der Sache waren.

      Jutta Rotberg arbeitete bei einem großen Automobilhersteller im Büro. Auch von ihren Kollegen besaßen die meisten ein Smartphone. Sie hatte überlegt, ob sie ihrem Mann so ein Gerät zum Geburtstag schenken sollte. Weil es recht teuer ist, hatte sie ihn lieber vorher gefragt. Er hatte abgewehrt. Das brauche er nicht. Da sei er nur wieder tagelang damit beschäftigt, alle Funktionen für herauszufinden. Sie beschloss, Weihnachten abzuwarten. Da kamen die Kinder zu Besuch, ihr Sohn Fabian würde ihm das dann so einrichten, dass er zurechtkam.

      Nach einer Stunde Fahrtzeit durch den Feierabendverkehr erreichten Sie die Unglücksstelle. Mittlerweile lag die Szene im Scheinwerferlicht. Sie wirkte in ihrer inselhaften Helligkeit so gespenstisch, wie sie auch tatsächlich war. Vor Ort standen noch mehr Kameras und Journalisten. Viel schweres Räumungsgerät wartete auf den Einsatz. Es herrschte eine professionelle Atmosphäre. Die meisten Anwohner waren nach Hause gegangen. Es gab jedoch eine Menge Menschen, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihre Neugierde zu befriedigen. Von allen Seiten drängten sie heran. Aber durch die Kollegen von der Bereitschaft war das Gebiet weiträumig abgesperrt worden.

      Im Zentrum der Ruine arbeitete immer noch eine Gruppe weiß gekleideter Polizisten. Der Scanner nahm gerade ein weiteres virtuelles Abbild der Szene.

      „Na, da sind sie wohl tatsächlich zum Herd der Explosion durchgedrungen“, meinte Sabrina Hamm.

      *

      „Bitte was?“, Rotberg sah den Kollegen von der Spurensicherung fassungslos an. „Sag’, dass das nicht wahr ist!“ Er wartete auf eine Reaktion. „Ihr habt wirklich einen Zünder gefunden?“

      Der Angesprochene ging an die Kiste, in die er die Fundstücke verstaut hatte. Er holte zwei verschlossene Plastiktüten heraus und hielt sie Rotberg vor die Nase. Die Tüten baumelten unter seinen Fingern. Rotberg sah die kleinen Metallteile an. Er musste die Brille abnehmen, um alles besser zu erkennen.

      „Ist das eine Batterie?“

      Der Forensiker nickte: „Wir müssen das natürlich noch untersuchen. Zuerst wollen wir dieses Stück des Ruinenfeldes komplett auswerten und später im Labor analysieren und rekonstruieren. Beim Bergen nehmen wir immer wieder für einen Moment einen leichten Marzipangeruch wahr.“

      „Marzipan?“, fragte Sabrina Hamm.

      „Sie meinen Plastiksprengstoff?“, fasste Rotberg nach.

      Der Kollege wiegte den Kopf: „Aber bitte mit aller Vorsicht. Ich möchte erst sichergehen.“

      Rotberg blickte in Leere. „Eine Bombe in einem Kindergarten?“ Er sprach jedes Wort einzeln, so als gehörten sie nicht zu demselben Satz und er versuchen würde einen Sinn darin zu finden. „Hier haben Kinder gespielt – Kinder! Drei oder vier Jahre alt!“

      Sabrina Hamm sah fassungslos zu den Anwesenden: „Was für ein mieses Schwein tut denn so etwas?“

      Rotberg sah ihr in die Augen. „Okay“, sagte er in die Runde, „nichts davon geht an die Öffentlichkeit, bevor Klarheit herrscht. Wie lange brauchen Sie?“, frage er die Leute der Spurensicherung.

      „Morgen Mittag bin ich fertig. Wir werden wahrscheinlich noch zwei Stunden graben. Dann fahren wir ins Labor und legen eine Nachtschicht ein.“

      „Gut“, Rotberg wandte sich an Sabrina Hamm gewandt: „Wir fahren doch noch mal ins Klinikum Ost, um mit der Kindergartenleiterin zu sprechen. Ich will von ihr hören, wer in der letzten Zeit Zugang zum Kindergarten hatte. Jetzt ist eine andere Situation da!“

      Er setzte das Blaulicht aufs Dach und fuhr mit hohem Tempo los. Er bat Sabrina Hamm, den Pressesprecher anzurufen, um ihn zu absoluter Verschwiegenheit zu verdonnern. Danach sollte sie das große Gedeck für zwanzig Uhr zusammenrufen – so nannte er es, wenn er alle Kollegen zu einer Gesamtbesprechung sehen wollte.

      Nachdem sie die Anrufe erledigt hatte, versuchte er zusammenzufassen: „Mit was haben wir es zu tun? Mit einem Verrückten? Einem Terroranschlag?“

      „Terror, würde ich sagen“, antwortete sie.

      „Gegen wen oder für wen?“

      „Islamisten?“ Sie sah in fragend von der Seite an.

      Auf die kam man heutzutage zuerst. Rotberg war Profi genug, um nicht sofort dem nächstliegenden Impuls zu folgen und alle anderen Varianten zu vernachlässigen.

      „Wenn es religiöse Fanatiker sind, was wollen die? Wer kann sonst dahinterstecken?“

      „Nazis? Linksradikale?“ Sabrina Hamm klopfte die naheliegenden Möglichkeiten ab.

      „Falls es Islamisten sein sollten, könnte es mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan zusammenhängen“, spekulierte er. Wenn es Nazis oder Kommunisten sind, welche aktuellen Themen liegen da in der Luft? Und warum töten die Kinder?“

      „Um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen.“

      „Das haben sie wahrlich getan, wer auch immer dahintersteckt.“

      Beide schwiegen einen Moment. Rotberg raste dabei konzentriert durch den abebbenden Berufsverkehr. Sie würden die Klinik jetzt schnell erreichen. Mit dem Martinshorn gewinnt man viel Zeit, falls man sie braucht.

      „Es könnte ebenso gut ein Erpresser sein“, spekulierte Sabrina Hamm. „Oder doch ein Verrückter?“

      „Verrückt war der Täter auf jeden Fall“, antwortete er. „Und wenn er das nicht ist, ist er kaltblütig. Mehr als alle Kunden, die wir bisher betreuen mussten.“

      „Ein Soziopath!“

      „Soziopath?“, fragte Rotberg.

      „Das sind oft hochintelligente Menschen. Sie haben kein Mitgefühl. Sie wissen, dass andere Leute emphatisch sein können, manchmal ahmen sie dieses Verhalten nach. Sie haben gelernt, dass es gesellschaftlich angebracht ist, solche Regungen zu zeigen. Ein Soziopath ist oft ein knallharter Karriere- und Machtmensch. Sie kennen keine Skrupel. Sie sehen ausschließlich sich und die persönlichen Ziele. Vom sozialen Leben sind sie isoliert, häufig führen sie parallele sexuelle Beziehungen. Übertriebenes Karriereverhalten wird gesellschaftlich nicht geschätzt, ist aber auch nicht verboten, solange man im Rahmen der Gesetze bleibt. Man erkennt sie meistens erst, wenn sie diese Grenze überschreiten. Sie sind nicht therapierbar. Sie vermissen keine Empathie und empfinden sich selbst als völlig normal.“ Sabrina Hamm sah mit leicht zusammengekniffenen Augen nach vorn durch die Windschutzscheibe, so als lese sie dort in einem Lexikon.

      „Oha“, sagte Rotberg, „woher hast du denn das?“

      „Psychologieseminar“, antwortete sie knapp. „Ich bin bisher aber keinem begegnet. Weder beruflich noch privat.“

      „Unabhängig