Marlon Thorjussen

Bis Utopia


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und wurde von den beiden Eindringlingen sanft aufgefangen.

      Von Verträgen und Aufreißlaschen – 1. April, ca. 17:45

      Ungefähr zehn Minuten, nachdem Peer Flint zu Boden gesunken war, erwachte er gefesselt in seiner Küche. Seine Beine waren an die vorderen Stuhlbeine seines Morgenkaffeestuhls gefesselt und seine Arme hinter der Lehne zusammen gebunden. Doch weder schmerzte ihm etwas, noch fühlte er sich unangenehm verrenkt. Das Fixieren seines Körpers schien von derselben Präzision wie das Ölen seiner Tür vonstatten gegangen zu sein.

      Jene Tür erinnerte Peer daran, dass etwas gewaltig schief gelaufen sein musste und als er dann schließlich die Augen aufschlug und die zwei Rotschöpfe wieder erblickte, dämmerte es ihm schlagartig: Da waren zwei Männer in seiner Wohnung, die seltsame Augen hatten und ihn offensichtlich an seinen eigenen Stuhl gefesselt hatten.

      „Entschuldige“, sagte einer der beiden. Peer erinnerte sich dunkel daran, das heute schon gehört zu haben. Er schaute die beiden nur irritiert an.

      „Wir müssen dich erst einmal so belassen. Weil wir dir das, was wir dir alles zu sagen haben, besser sagen, wenn du uns“, fing der eine Rotschopf an, „nicht schlagen kannst“, vollendete der andere.

      Peer verstand die Situation nicht.

      In seinem Leben war eigentlich kein Platz für Ereignisse außerhalb der Norm. Er war das gewohnt, was man ein ruhiges Leben nennt. Er hatte ein gutes Elternhaus in einem Dorf in der Nähe genossen, hatte nach der Schule seine kaufmännische Ausbildung absolviert und kümmerte sich nun um den Einkauf eines recht großen Fachgeschäftes für Büroartikel. Er hatte ein paar wenige Frauen gehabt, mit denen er auch ein paar wenige durchschnittlich gute Beziehungen hatte. Alle Frauen hatten ihn nach ein paar Monaten oder Jahren wieder verlassen - Dramen gab es aber nie. Jetzt war er 32 Jahre alt, kinderlos und zufrieden. Nach der Arbeit erledigte er für gewöhnlich Einkäufe, fuhr selten zu seinen Eltern oder schaute fern. Ein paar Abende die Woche traf er sich mit seinen Freunden in der nahen Kneipe und tauschte Belanglosigkeiten aus. Er studierte die Nachrichten durchschnittlich intensiv, hatte dann und wann mal Wünsche, die er sich selten erfüllte und fand hier und dort Interesse an etwas. Mal waren es Tierdokumentationen und mal waren es Basteleien – was war er doch stolz auf seine selbst zusammen gepfriemelten Notizheftchen, deren Materialkosten und der Arbeitsaufwand, diese zu fertigen, in keiner Relation zum Kauf perfekt standartisierter, funktionaler Notizbüchlein stand! - und doch gab es auch innerhalb seiner manchmal wechselnden Laienfachgebiete nichts, was ihn ausgewiesen hätte.

      Es war, als wäre seine gesamte Existenz darauf ausgelegt, möglichst wenig Eindruck auf andere zu hinterlassen und auch, weil er die nicht vorhandene Tragweite seines Seins niemals eingeschätzt hatte, gefiel ihm sein Leben doch insgesamt recht gut. Zwischen den wichtigen Dingen, die eine Bedeutung hatten, war eben Peer Flint - Großhandelskaufmann für Büroartikel, Single, 32 Jahre alt, durchaus lebendig, zufrieden mit den Dingen, die ihn ausmachten und die er sein Eigen nennen konnte. Für ihn spielten die wirklich großen Dinge dieser Welt kaum eine Rolle.

       Insofern beruhten das Verneinen des Universums, aus Peers Existenz irgendwelche Konsequenzen abzuleiten und Peers generelle Überforderung damit, anzunehmen, dass diese großen Kriege, Schicksale, Romanzen und Selbstverwirklichungen, mit denen sich die meisten Menschen nur allzu gern beschäftigten, irgendetwas mit ihm zu tun haben könnten, auf Gegenseitigkeit.

      Zu Peers Überraschung sollte sich sein Standpunkt dabei als falsch erweisen, während das Universum nicht von seiner Idee abzurücken plante, möglichst wenig Bezug zu einem Peer Flint herzustellen, der sich aufgrund der Verkettung von Ereignissen gefesselt in seiner eigenen Wohnung befand und darauf wartete, dass man ihm erklärte, wie es so weit kommen konnte.

      Natürlich wusste das große Ganze die Gründe dafür und hatte deshalb die beiden jungen Männer so angerichtet, dass sie es ihm erklären konnten. Möglicherweise war es dem Universum dennoch egal, denn schließlich hatte es ja das sogenannte Schicksal voran geschickt, um Peer Flint die frohe Botschaft zu überbringen.

      „Ich bin Melv“, stellte sich darum der eine vor.

      „Und ich bin Ruben“, sagte der andere.

      “Und ich wohne hier“, sagte Peer. Ihm fiel einfach nichts Besseres ein, als das Offensichtliche zu betonen. „Und ihr habt mich gefesselt. In meiner eigenen Wohnung. Nehmt, was ihr wollt! Nur lasst mich danach wieder frei, bitte!“

      Ein Moment der Stille war die Quittung für Peers eher dürftigen Versuch des Verhandelns. Die Mundwinkel der beiden Rotschöpfe zuckten für einen Augenblick, dann lachten sie beides ein nervtötend schallendes Lachen.

      „Das wollten wir dir ja gerade erklären. Also, wo fangen wir an?“, fragte Ruben. Offensichtlich ging die Frage an Melv, der schließlich antwortete: „Also, wir sind Ruben und Melv.“

      „Zwillinge?“, warf Peer ein und fühlte sich klug dabei.

      „Nein, Klone natürlich“, antwortete Melv so natürlich, wie man so etwas sagen konnte, wenn man es nicht anders gewohnt war. In Peers Hirn hingegen schaltete sich spontan der Teil ab, der dafür zuständig war, Dinge zu hinterfragen. Ein wenig fühlte er sich wie früher in der Kirche.

      „Das ist Ruben, ich bin Melv und wir sind hier, weil wir dich für ganz wichtig halten. Eigentlich nicht wir. Also eigentlich nur gewissermaßen auch wir.“

      „Aber eigentlich hält dich Doktor Chart für wichtig“, ergänzte Ruben.

      „Ist ja auch egal. Oder?“, ergänzte Melv die Ergänzung seines Klons und sortierte in seinem Inneren den Plan, den die beiden für heute hatten.

      Der andere Klon nickte und alles nahm seinen Lauf.

      „Genau. Wo war ich? - Ach ja: Förmlichkeiten. Du bist doch Peer Flint, oder? Ansonsten wäre das jetzt sehr peinlich“, vergewisserte Melv sich, wenngleich er Fehler ausschloss.

      „Ja“, antwortete Peer mechanisch.

      „Sehr gut! Dann haben wir ja alles richtig gemacht.“

      Für Peer stand zwar fest, dass die beiden etwas gewaltig falsch gemacht hatten, aber das hielt Melv nicht davon ab, ihm zu erklären, warum man ihn gefesselt hatte und sich in der Küche unterhielt.

      „Du kannst jetzt bitte zuhören, Peer. Und einfach fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber bitte nicht zu viel. So ganz genau verstehen wir vieles, was wir dir sagen sollen, auch nicht. Die ganzen technischen Details hat man uns nicht eingetrichtert. Wir machen hier nur unseren Job, musst du wissen.“

      Peer starte in Melvs Augen. Diese gelben Flecken um das Grüne herum wirkten auf ihn so unnatürlich, dass ihm ein wenig übel wurde.

      „Einverstanden?“, fragte Melv mit diesem perfekten Lächeln im Gesicht.

      Peer nickte und versuchte, seine Arme ein wenig zu bewegen.

      „Schön. Also... Um es kurz zu machen: Wir sind von Genetic Advancement Services. Also von GAS. Das spricht man wie das das englische Wort für Benzin aus.“

      „Aber nicht fuel“, gluckste Ruben.

      „Nein, gas natürlich. Aber das sind ja Belanglosigkeiten. Du kennst uns nicht, wir kennen dich aber bis ins kleinste Detail. Und jetzt kommt der Teil, wo wir uns bei dir entschuldigen müssen.“

      „Hä?“, entfuhr es dem Gefesselten. Es war offensichtlich, dass man sich bei ihm zu entschuldigen hatte!

      „Ja, also wir – also: nicht Ruben und ich. Aber Sven...“

      „Wer ist Sven?“, warf Peer ein.

      „Der Mann, dessen Klone wir sind. Sven hat dich ausfindig gemacht. Vor Jahren schon. Erinnerst du dich daran, dass du vor circa acht Jahren mal Stammzellen gespendet hast?“

      Peer kramte in seinen Erinnerungen: Vor ein paar Jahren hatte er tatsächlich mal Stammzellen gespendet. Er bekam irgendeinen Wirkstoff, von dem er Grippesymptome bekam und dann wurde er, nachdem