Nick Lubens

Heavy Metal


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      Denim and Leather - Saxon

      Etwas verloren stehen wir auf dem Schulhof herum und schauen den anderen Schülern aller Altersstufen zu, wie sie durch die Breche in der flachen Mauer, die unsere Schule umgibt, dem wohlverdienten Feierabend entgegen eilen. Die Schule ist auch für uns vorbei, aber aus unerfreulichem Anlass müssen wir heute länger bleiben.

      „Schau mal! Da kommt Jana.“, unkt Robert und boxt mich mit einem hämischen Grinsen in die Schulter.

      Ich wage einen verstohlenen Blick zum Tor hinüber. Die strahlende Nachmittagssonne lässt ihre roten Haare überirdisch glänzen, die modische Kunstlederjacke mit den Schulterpolstern unterstreicht ihre Wespentaille vorteilhaft und selbst die albernen Karottenjeans, natürlich aus Westproduktion, können ihrem elfengleichen Äußeren nichts anhaben. Die Grazie, mit der sie sich durch die Haare streicht, bringt mein Herz für einen Moment beinahe zum Aussetzen.

      „Das ist ja nicht mit anzusehen.“, höre ich Roberts Stimme wie aus weiter Ferne. „Gleich fängt er an zu sabbern.“

      In diesem Moment fährt ein Motorrad vor und hält neben Jana Gebauer. Sie schnappt sich den ihr dargebotenen Helm, stülpt ihn über den Kopf und hebt in einer vollendeten Bewegung ihr linkes Bein über den Motorradsattel. Ihre Arme umschlingen den Oberkörper des Motorradfahrers, dessen Gesicht durch das Visier des Integralhelms verdeckt wird und fort sind sie mit lautem Geknatter.

      „Mann, das war eine 250er.“, höre ich Olaf stöhnen.

      „Der Typ ist mindestens 18.“, stellt Sirko nüchtern fest.

      „Das ist eine harte Nuss.“, kommentiert Olaf.

      „Auf jeden Fall ist es nicht Falk.“, versucht Robert mich aufzumuntern, was ihm aber nur ansatzweise gelingt. Zu tief sitzt der Schock, meine Angebetete mit einer solchen Konkurrenz abzwitschern zu sehen.

      „Etwas Gutes hat die Situation aber auch.“, analysiert Sirko pragmatisch. „Er muss bald zur Fahne, dann ist der Weg für Tilo frei.“

      „Woher willst du das wissen?“, hakt Olaf skeptisch nach.

      „Er wird nicht viel älter sein als 18, das heißt, er hat die Armeezeit noch vor sich.“, führt Sirko seine Überlegungen aus. „Und hast du schon mal von einer Beziehung gehört, die drei Jahre NVA überlebt hat?“

      Stillschweigend muss ich ihm recht geben, aber Robert findet schon wieder ein Haar in der Suppe. „Dann sollte sich Tilo aber mal ranhalten. In zwei Jahren muss er auch ran. Je länger es mit Jana dauert, umso kürzer wird dann die Beziehungskiste.“

      „Oder er wartet gleich bis nach der Fahne, dann können sie ein ganzes Leben gemeinsam planen.“, sülzt Olaf mit anzüglichem Grinsen herum.

      „Ihr könnt mich mal.“, knurre ich und drehe mich weg, nur um genau in das sauertöpfige Gesicht meines kleinen Bruders zu blicken. Er stapft mit zwei Freunden grußlos an mir vorbei.

      „Was ist denn los?“, rufe ich ihm zu. So kenne ich ihn gar nicht.

      Es macht zunächst den Eindruck, als würde er mich tatsächlich ignorieren. Dann bleibt er doch noch stehen, dreht sich zu mir um, und schreit: „Was los ist? Nur weil du einen auf Rocker machen musst, kann ich jetzt mit der Straßenbahn nach Hause fahren. Hast du dir mal überlegt, was dieses beschissene Elterngespräch für mich bedeutet? Und alle in der Klasse nennen mich den Bruder eines Klassenfeindes.“ Pikiert schaut er seine beiden Freunde an. „Naja, fast alle. Schöne Familie habe ich da.“ Wäre er etwas älter, würde er jetzt sicher zum Zeichen seiner Verachtung vor mir auf den Boden spucken. So belässt er es dabei, mir die Zunge herauszustrecken, dann dreht er sich um und zieht seine Kumpels vom Schulhof.

      „Klassenfeind! Wir basteln schon an unserem Mythos, bevor wir überhaupt das erste Mal Musik gemacht haben.“, stellt Robert mit Genugtuung fest.

      „Findet ihr aber nicht auch, dass die total übertreiben?“, meint Olaf mit ernster Miene. „Ich meine, wozu ein Elterngespräch, nur weil wir Klamotten tragen, die wir cool finden?“

      „Weil sie nicht der Vorstellung der Partei entsprechen. Uniformität ist erwünscht, nicht Individualität.“, klärt uns Sirko auf.

      „Geht es noch gebildeter?“ Robert guckt ihn scheel an.

      Sirko zuckt die Schultern. „Wir sehen anders aus, als sie es wollen und darum halten sie uns für gefährlich.“

      Ein begeisterter Glanz tritt in Roberts Augen. „Genau das ist Heavy Metal.“, ruft er und reckt die Faust in die Luft. „Leute, ich habe eine Idee.“

      „Oha.“, entfährt es Olaf. Auch mir schwant nichts Gutes. In den letzten neun Jahren ist es selten vorgekommen, dass sich eine von Roberts Ideen als brauchbar erwiesen hat. Trotzdem sind wir immer wieder darauf eingestiegen.

      „Wir schließen einen Pakt.“, breitet Robert seinen spontanten Plan vor uns aus. „Keiner schneidet sich mehr die Haare.“

      Wir überlegen kurz, dann nicken Sirko, Olaf und ich einvernehmlich.

      „Außerdem werden wir ganz gezielt gegen die Normen dieser spießigen Gesellschaft verstoßen.“

      Sirko hebt erschrocken die Augenbrauen. Seine Reaktion ist nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass er die Chance haben könnte, doch noch das Abitur zu machen, wenn er sich als wertvolles Mitglied des sozialistischen Kollektivs erweist.

      „Keine Disziplinarsachen.“, schränkt Robert seinen Vorschlag sofort ein. „Ihr habt es gehört, die Kästner hat Tilo und mich sowieso auf dem Kieker.“ Wir nicken zustimmend. „Nur kleine Provokationen und ein gesundes Rebellentum.“

      „Und wie soll das genau aussehen?“, fragt Olaf unsicher nach.

      „Das wird sich in den Situationen schon von selbst ergeben.“, gibt sich Robert optimistisch. „Irgendwas wird uns schon einfallen.“

      „Unsere Klamotten sind auf jeden Fall ein guter Anfang.“, findet Sirko und schaut stolz an seinem Jeansoutfit herunter.

      „Klar, aber das kann erst ein Anfang sein.“, meint Robert und zupft an seiner durch Ärmelabschneiden entstandenen Jeansweste herum. „Wir brauchen definitiv mehr Leder.“

      „Da sagst du was.“, erwidert Olaf lachend. „Als ob das so einfach wäre.“

      Robert betrachtet unseren wohlbeleibten Freund und legt dabei den Kopf schräg. „Naja, bei dir brauchen wir auf jeden Fall etwas mehr Material.“

      „So schwer kann es auch wieder nicht sein.“, halte ich dagegen, bevor die Situation in Streit ausarten kann. Seine Leibesfülle ist einer von Olafs wunden Punkten. „In Gera auf dem Konzert gab es viele Lederhosen und sogar Westen.“

      „Stimmt!“, gibt mir Robert recht. „Das muss eine unserer Prioritäten sein.“ Er zieht die Stirn kraus und guckt uns irritiert an. „Ist was?“

      „Was war das eben für ein Wort aus deinem Mund?“, zieht ihn Sirko auf.

      „Ach, meinst du, dass du der Einzige bist, der Fremdwörter kennt, oder was?“, kontert Robert aufgekratzt. Sirko macht eine beruhigende Geste, die Robert milder stimmt. „Jedenfalls sollte sich jeder von uns umhören, wo man Lederklamotten herbekommt. Das ist ein absolutes Muss!“

      „Ja, und wir sollten uns in der Öffentlichkeit nur noch bei unseren Spitznamen rufen.“, schlägt Olaf vor. Drei verständnislose Gesichter wenden sich ihm zu. „Wegen dem Wiedererkennungswert.“, erklärt er uns. „Das hab ich im Neuen Leben gelesen. Das machen alle großen Bands so. Olafs, Roberts, Tilos und Sirkos gibt es schließlich wie Sand am Meer, aber Motte, Klatsche und Speedy bringt man sofort mit Mars in Verbindung.“ Seine Augen leuchten im Angesicht seiner glorreichen Idee.

      „Und was ist mit mir?“, meldet sich Sirko belämmert zu Wort. „Hab ich überhaupt einen Spitznamen?“

      „Ach, da findet sich schon noch einer.“, entgegnet Robert nonchalant und schlägt ihm auf die Schulter.