Nick Lubens

Heavy Metal


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platz. Eigentlich hat dieser Platz ja sogar etwas Gutes. So nahe bin ich Fräulein Schönemann noch nie gekommen. Sie ist einer der wenigen Gründe, warum sich das frühe Aufstehen an den Schultagen überhaupt lohnt. Keine Ahnung, ob sie eine gute Lehrerin ist und Deutsch und Staatsbürgerkunde interessieren mich eigentlich auch nicht besonders, aber ihre Ausstrahlung, die goldenen Locken, das freundliche Lächeln und, nicht ganz unwesentlich, ihr üppiger Vorbau lassen mich schon seit zwei Jahren regelmäßig während des Unterrichts in andere Sphären entschwärmen. Ich prüfe noch einmal unauffällig den Sitz meiner Klamotten. Alles tadellos.

      Die Tür öffnet sich und alle springen eifrig auf. Es ist unser letztes Schuljahr an der POS und wer bisher nicht gelernt hat, dass ein erster guter Eindruck für die Zensurenvergabe maßgeblich sein kann, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.

      Die erwartungsfrohe Haltung der Klasse wird jäh gedämpft, als sich ein zotteliger blonder Haarschopf gut einen halben Meter über Fräulein Schönemanns Normalhöhe durch die Tür schiebt. Olaf ist wie fast immer zu spät und grinst verlegen in die Runde. Als er bemerkt, dass noch keine Lehrkraft anwesend ist, entspannt sich seine Körperhaltung schlagartig und er schlendert schlacksig zu uns herüber.

      „Hey, Motte, ausgeschlafen?“, brüllt der vorwitzige Jan nach vorn. Alle lachen und Olaf bleibt nichts übrig, als den Spott über sich ergehen zu lassen und ihn mit einer obszönen Geste zu bedenken.

      „'Nen besseren Platz konntet ihr wohl nicht finden?“, raunt er uns missmutig zu, während er versucht, seine langen, stämmigen Beine unter dem Tisch neben Sirkos Füßen zu sortieren.

      „Hättest ja eher kommen und was freihalten können.“, murrt Robert, ohne den Blick von der leeren Tafel, die wie ein schwarzes Loch die Blicke magisch anzieht, zu wenden. Auch ich kann mich diesem düsteren Sog nur schwer entziehen. Von hier vorn sieht dieses Hauptarbeitsgerät unserer Lehrer irgendwie noch bedrohlicher aus als in den letzten Jahren, wo ich es aus der hinteren Reihe bewundern durfte.

      Die Tür geht wieder auf. Diesmal erheben wir uns deutlich vorsichtiger, schließlich fehlen auch noch Jeanette und Björn. Für die machen wir nicht so ein Affentheater. Statt der beiden rauscht aber Barbara Kästner herein. Mit einem giftigen Blick ihrer blauen Augen taxiert sie uns vier von der ersten Reihe wie ein Sheriff, der sich vornimmt, die Bande von Revolverhelden, die gerade den Saloon seiner friedlichen Stadt betreten hat, genau im Auge zu behalten.

      „Guten Morgen!“, posaunt sie mit einer für ihre geringe Körpergröße beachtlichen Lautstärke heraus. Dann stellt sie sich hinter dem Lehrerpult auf, strafft die Schultern, hebt die rechte Faust neben den Kopf und ruft uns in militärischem Befehlston „Freundschaft!“ entgegen.

      „Freundschaft!“, schallt es weniger enthusiastisch und deutlich weniger lautstark aus 32 Kehlen zurück.

      Der Mund der Pionierleiterin verzieht sich zu einem schmalen Strich. „Mager! Sehr mager!“, kommentiert sie enttäuscht. Warum sie dabei gerade mich anschaut, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht hat der Mopedhelm meine Frisur durcheinandergebracht?

      „Setzt euch!“, fordert Frau Kästner die Klasse auf. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen.

      „Eure Einstellung zum Lernen in der sozialistischen Schule lässt stark zu wünschen übrig.“, setzt sie zu einer Standpauke an, die sie aber alles in allem im Sitzen recht gut aushalten lässt. Zumal wir den Großteil der Rede schon zu verschiedenen Anlässen in den Vorjahren gehört haben und so ziemlich genau wissen, was auf uns zukommt. „Die Werktätigen in unserem Land arbeiten hart dafür, dass es euch einmal besser geht. Wohlstand und Fortschritt sind das oberste Bestreben unserer Staatsführung und dieses ganze Streben dient nur dem Wohl der heranwachsenden Generation. Ihr genießt eine kostenlose Bildung auf höchstem Niveau, wie sie sich Millionen von Kindern in den von den Imperialisten unterdrückten Ländern nur wünschen können. Allein in Amerika gibt es hunderttausende schwarze Jugendliche, die sich ein Bein ausreißen würden, um eine so tolle Schule wie die eure besuchen zu dürfen. Ein bisschen mehr Dankbarkeit der Arbeiterklasse und ihrer Partei gegenüber wäre da durchaus angebracht.“ Ihr stechender Blick kreist wie ein Geier über die Bankreihen. Schnell senken wir den Blick demütig auf die Tischplatten. Jetzt nur nicht aufblicken, bis sich das Gewitter gelegt hat.

      „Es gab über die Ferien einige Veränderungen im Lehrkörper dieser Schule.“, fährt Frau Kästner nach einer Schweigeminute zu Ehren von Partei und Arbeiterschaft in etwas milderem Ton fort. „Diese betreffen auch Fräulein Schönemann. Eure Klassenlehrerin wird Mutter und ist bis zum Entbindungstermin krankgeschrieben. Deshalb werde ich zunächst den Staatsbürgerkundeunterricht in eurer Klasse übernehmen und bis sich ein Ersatz findet, auch die Aufgaben der Klassenleitung übernehmen.“ Schon wieder bedenkt sie mich mit einem, diesmal sauertöpfigen, Blick. „Ich hoffe, euch allen ist der Ernst der Lage bewusst.“, fährt sie, nun wieder an die ganze Klasse gewandt, fort. „Nicht nur werdet auch ihr bald in den Kampf gegen das imperialistische Ausbeutersystem des Westens eintreten, egal ob am Fließband, in der Amtsstube, auf der Baustelle oder in den Reihen der Nationalen Volksarmee, einigen wenigen von euch wird nach der 10. Klasse auch die Möglichkeit offen stehen, parallel zu einer Berufsausbildung das Abitur zu erwerben. Ein Studium in Moskau...“ Barbara Kästners Blick verklärt sich leicht, wird aber gleich wieder hart. „Aber nur die besten, fleißigsten und solidarischsten Schüler unter euch werden eine solche Chance erhalten.“ Diesmal schaut sie nicht mich an. Stattdessen tauscht sie ein freundliches Lächeln mit Liane Schulze, die in der zweiten Reihe an der Wand sitzt und seit der ersten Klasse ohne Unterbrechung jedes Jahr als beste Schülerin des Jahrgangs das Abzeichen für gutes Lernen verliehen bekommen hat.

      „Es geht hier aber nicht nur um eure eigene persönliche Zukunft, sondern um die Zukunft unserer sozialistischen Gesellschaft. Dieses letzte Schuljahr ist für die meisten von euch die letzte Möglichkeit, euch zu Persönlichkeiten zu entwickeln, die einen wertvollen Beitrag zum planmäßigen Aufbau des Kommunismus in unserem schönen Vaterland leisten.“ Mit einem strahlenden Lächeln beendet sie ihre kurze Ansprache. Mit Ausnahme von Liane Schulze, die wie ein Honigkuchenpferd grinst, lächelt niemand zurück. Die meisten inspizieren zum zweiten Mal an diesem Tag intensiv die Oberfläche des Tisches vor ihnen.

      Ein lauter Knall beendet die unangenehme Stille, die entstanden ist. Aufgeschreckt drehen wir uns nach hinten um, wo der Krach seinen Ursprung genommen hatte. Bedröppel rappelt sich Alex vom Boden hoch und reibt sich den Kopf. Ein Kichern von vorn bringt mich dazu, mich nach Barbara Kästner umzuschauen. „Das ich das noch erleben darf! Alexander Friedrich kippt beim Kippeln um.“ sagt sie mit einem befriedigten Blick. „Darauf warte ich seit neun Jahren.“

      Die Mädchen kichern wie Zweitklässlerinnen mit vorgehaltener Hand, die Jungen brechen in einen johlenden Beifall aus. Ich grinse Alex spöttisch zu. Ich gönne ihm diese Schmach von Herzen.

      „Ruhe!“, brüllt Barbara Kästner von vorn. „Was ist denn das für ein Affentheater? Als FDJler solltet ihr mehr Solidarität mit einem gefallenen Kameraden zeigen! Alex ist schließlich nicht der einzige, der noch eine steinige Strecke auf dem Weg zur gereiften sozialistischen Persönlichkeit vor sich hat.“ Wieder bedenkt die Pionierleiterin mich mit einem strengen Blick, der dann aber zum Glück schnell zu Robert und anderen schwachen Charakteren weiterschweift. Betreten senke ich den Kopf. Bisher habe ich es doch ganz gut geschafft, unter dem Radar durchzurauschen. Hätte ich nur niemals Gitarre spielen gelernt. Dann wäre das ganze Schlamassel auf dem Pioniertreffen nie passiert und ich könnte mein letztes Schuljahr entspannt über mich ergehen lassen.

      „...dass wir nicht auch ins Wehrlager fahren durften.“, höre ich Kathrin Neubert sagen. Offenbar habe ich einen entscheidenden Themenwechsel verpasst. „Ich wäre auch lieber mit Gasmaske und Gewehr durch den Wald gelaufen, als zwei Wochen lang den anderen Mädchen Verbände anzulegen.“

      Robert grinst mir vieldeutig zu. Um ehrlich zu sein, kann ich mir die burschikose Kathrin mit ihrer Igelfrisur auch eher in dreckiger Uniform als in weißem Kittel vorstellen. Im Ernstfall würde ich lieber von einem Fleischer als von ihr medizinisch versorgt werden.

      „Jeder hat seinen Platz, und der von Frauen ist nicht hinter einer Waffe, Kathrin.“, wird sie von unserer Pionierleiterin sanft