Tom Sailor

Es sind doch nur drei Wochen


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weiter. »Die Geschwindigkeit reicht nicht einmal für Schritttempo, wieso hängen dann so viele Menschen wie die Trauben an den Bussen?«, fragt sich Erik, als das Taxi sich gerade neben einem Bus befindet. Vielleicht ist es einfach eine Prestigefrage, dass man es sich leisten kann, mit dem Bus zu fahren. In einem unbedachten Moment kurbelt er kurz das Fenster auf, um es aber sofort wieder zu schließen. Die schwüle Luft ist von den Abgasen gesättigt und strebt sofort durch das offene Fenster, in dem Verlangen, möglichst jeden Raum mit vermeintlich halbwegs reiner Luft zu vernichten. Neben dem Gestank zehrt der andauernde Lärm an den Nerven. Indische Autofahrer hupen selbst im Dauerstau ständig. Die gern zitierte Gelassenheit des Inders kann Erik nur bei seinem Fahrer erkennen, wofür er sehr dankbar ist.

      Erik hat den Eindruck, dass die Hupe von den Indern ausgiebig als Mittel zur Kommunikation eingesetzt wird. Vor jeder Aktion eines Autofahrers, sei es zum Bremsen, Anfahren oder Spurwechsel, wird als Warnung gehupt. Vermutlich begrenzt sich das Hupen aber nicht nur zur Warnung, sondern wird auch gerne und oft einfach nur so ausgeführt. Der Unterschied besteht in der Länge des Signals. Das »einfach-nur-so« Hupen ist nur kurz. Das Warnungshupen ist dagegen deutlich länger, meist über mehrere Sekunden. Auf der Rückseite eines Busses kann Erik in bunten Buchstaben »Horn please«, lesen. Auch auf LKWs und den kleinen Rikschas hat er diese Aufforderung gesehen. Erik wundert sich über diese Aufschrift, die fast zu jedem Fahrzeug gehört, wie der Außenspiegel. Erik beobachtet die äußerst rücksichtslose Fahrweise mancher Fahrer. Es wird zum Teil versucht, zwischen allen Fahrspuren zu wechseln, wobei nicht einmal die Gegenfahrbahn und die Wege für die Fußgänger ausgenommen werden. In den meisten Fällen ist dies aber nicht möglich, da entweder die Rinnsteine zu hoch sind oder auf den Gehwegen die kleinen Verkaufsstände stehen. Es kommt Erik wie ein Kampf um jeden Zentimeter vor.

      Verwundert sieht Erik, wie zwar Fußgänger regelrecht gejagt werden, um eine Kuh, die auf der Straße liegt, jeder aber einen Bogen macht. Vermutlich gibt es kaum einen Anblick, der so typisch für Indien ist, wie das Bild streunender Kühe auf einer viel befahrenen Straße. Völlig unbeeindruckt von dem quirligen Verkehr stehen oder liegen sie mitten auf der Straße, so dass die Autos gezwungen sind, um sie herumzukurven. Zu Eriks Überraschung sieht er einen kleinen Trupp Inder, die gerade dabei sind, in einer Nebenstraße eine Kuh auf einen LKW zu zerren. Verwundert deutet Erik auf die Szene und fragt seinen Fahrer nach dem Grund. Seine Erklärung überrascht ihn.

      Für die Hindus sind Kühe heilige Tiere. Es ist für einen gläubigen Hindu absolut verboten, diese Kühe zu schlachten. Das war Erik bekannt. Daher war er auch überrascht, dass hier eine Kuh gefangen wird. Der Fahrer erläutert Erik weiter, dass diese Kühe zwar heilig sind, aber nicht respektiert werden. Obwohl die Kühe überall herumlaufen dürfen, werden sie durch die Inder etwa so abschätzig betrachtet, wie wir Europäer auf die Tauben in unseren Städten reagieren. Mit der steten Entwicklung von Indien haben viele Einwohner die Geduld verloren. Die Tiere blockieren ständig die Straßen und sind der Grund für Staus und unzählige Unfälle. Dazu kommt, dass sie sich von dem Müll ernähren, indem sie die Behälter umtreten und den Inhalt auf den Straßen verteilen. Ihre Kuhfladen liegen zusätzlich überall herum und verschmutzen die Stadt. Ab und zu kommt es auch vor, dass ein Bulle seine Gelassenheit verliert, und randalierend durch die Straßen zieht. Dabei greift er Autos und Fußgänger an, wenn er sich von diesen gestört fühlt. Aus diesem Grund hat die Verwaltung in Delhi beschlossen, die Kühe einzufangen und aus der Stadt zu bringen. Dazu gibt es sogar ein höchstrichterliches Urteil, dass diese Kühe aus der Stadt zu entfernen sind. Bei dem Anblick der spitz auslaufenden Hörner erkennt Erik, dass diese Arbeit wohl nicht ganz ungefährlich ist. Der Fahrer erläutert weiter, dass nicht nur von den Tieren eine Gefahr ausgeht. Inder sind nicht so sanft, wie Europäer sich das vielleicht vorstellen. Es kommt häufig zu Schlägereien zwischen den Fängern und erbosten Autofahrern, weil aufgrund einer Fangmaßnahme eine Straße gesperrt wird, oder weil aufgebrachte, gläubige Hindus eingreifen, um die Kühe zu verteidigen und mit Stöcken und Steinen die Fänger angreifen.

      Ein weiteres Problem stellen die illegalen Molkereien in der Stadt dar. Diese haben sich der herumstreunenden Kühe bemächtigt und verkaufen die Milch an die Bewohner der Armenviertel. Zu Beginn der Aktion hat die Stadt die gefangenen Kühe versteigert. Doch nachdem die Molkereien die Kühe ersteigerten und dann wieder laufen ließen, hat man sich entschlossen, diese in städtischen Ställen außerhalb von Delhi unterzubringen. Kurioserweise hat sich mittlerweile ein Wettkampf entwickelt, bei dem die illegalen Molkereien nun diese Tiere entführen und wieder in der Stadt frei lassen. Daher kommt es vor, dass die Fänger die gleichen Tiere mehrfach einfangen. Indien ist leider sehr korrupt, erläutert der Fahrer weiter. Die Besitzer der Molkereien bestechen irgendwelche Politiker, so dass ihnen die Kühe zum Teil zurückgegeben werden und es keine Anklagen gibt, wenn einer bei der Entführung erwischt wird. Nachdenklich lehnt sich Erik zurück und beobachtet das bunte Geschehen mit gemischten Gefühlen, das an seinem Fenster langsam vorbeizieht. Verwundert stellt er fest, wie sich das leicht romantische Bild, dass er noch vor einem Tag von der friedlichen Koexistenz zwischen Rind und Inder hatte, nun mit dieser Information verflüchtigt und von einem Bild der Korruption, Kampf und Gewinnsucht ersetzt wird.

      Nach einer halben Stunde erläutert der Fahrer, dass sie am Ziel angekommen sind. Der Connaught Place ist zunächst nur als ein großer, überfüllter Kreisverkehr zu erkennen. Erik macht sich nun Sorgen, wie er von hier wieder zum Hotel kommen soll. Er muss es erreichen, dass das Taxi auf ihn wartet. Die Chance auf einen Parkplatz sieht aber äußerst schlecht aus. Der Verkehr quält sich mühselig vorwärts. Es ist kaum wahrscheinlich, dass genau vor ihnen ein Parkplatz frei wird. Für alle anderen Parklücken finden sich sofort Dutzende von Parkwilligen, so dass die Chance eines Lotteriegewinns wohl höher liegen dürfte.

      »Can you park and wait?«, fragt er den Taxifahrer.

      »No problem, Sir,« antwortet dieser.

      »Von wegen no problem,« murmelt Erik leise zu sich selbst bei einem Blick auf die überfüllten Straßen. Den nun folgenden organisierten Ablauf der Parkplatzsuche, oder eher Zuteilung, verfolgt Erik dann jedoch hochgradig erstaunt. Der Taxifahrer kurbelt das Fenster herunter und spricht einen Inder am Straßenrand an. In den Augen von Erik war es irgendein Passant. Doch der Passant stößt daraufhin einen schrillen Pfiff aus und wendet sich wenige Sekunden später an den Taxifahrer, um ihm etwas zu erklären. Nachdem sie sich etwa 20 Meter in der Runde um den Platz weiter bewegt haben, sieht Erik, wie ein Fahrzeug genau vor ihnen aus einer Parklücke fährt. Sofort will sich ein anderes Fahrzeug dort hineinbegeben, doch augenblicklich springt diesem ein Inder in den Weg und fordert ihn wild gestikulierend auf, weiter zu fahren. Eriks Taxi wird anschließend freundlich in die Parklücke gewunken. Auch hier gilt wieder das Prinzip: Wer Geld hat, hat auch einen Parkplatz.

      Obwohl der Taxifahrer verspricht, auf Eriks Rückkehr zu warten, hat Erik ein etwas mulmiges Gefühl, als er aus dem Taxi steigt.

      »Mr., one Rupee, please! Please Mr., only one Rupee!« Kaum dass Erik das Taxi verlassen hat, stehen vier kleine, verdreckte Kinder vor ihm und strecken ihm ihre Händen entgegen. Instinktiv steckt er seine Hände in die Hosentaschen, um seine Wertsachen und sein Geld zu sichern. Erik hatte kurz zuvor gelesen, dass erfolgreiche Bettelkinder mehr Geld nach Hause bringen, als der Vater mit ehrlicher Arbeit verdienen kann. Ausländer haben kein Verhältnis zur Kaufkraft des Geldes und verteilen daher viel zu hohe Beträge. Die Empfehlung lautet daher, Kindern auf keinen Fall etwas zu geben. Diese sollen lieber in die Schule gehen.

      Erik fällt ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren auf, der sich auf eine Krücke stützt. An seinem rechten Bein fehlt der Fuß. Der Stumpf sieht frisch verbunden aus. Ihm kommen Geschichten in den Sinn, nach denen Kinder der Bettelkaste mutwillig verstümmelt werden, um durch den höheren Mitleidsfaktor bessere Ergebnisse beim Betteln zu erzielen. Für einen Außenstehenden ist es nicht nachvollziehbar, ob ein Unfall oder eine mutwillige Verstümmlung zu dem Gebrechen geführt hat? Erik befindet sich in einem argen Gewissenskonflikt. Selbst für den Fall, dass es mutwillig war, wäre es moralisch gerechtfertigt, diesem armen Kind etwas zu geben, da diese Verstümmlung mit Sicherheit nicht seine Idee war. Auf der anderen Seite würde man damit aber dieses widerliche System unterstützen, da es ja die gewünschte Wirkung in Form einer Spende erzielt. Das Ergebnis sind weitere verstümmelte Kinder. So schwer es Erik auch fällt, wendet er sich ab und entscheidet