Tom Sailor

Es sind doch nur drei Wochen


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Die vielen Menschen drücken und drängeln fortwährend, so dass er ständig mit irgendeinem anderen Menschen direkten Kontakt hat. Sein anfänglich leichter Ekel ändert sich mit der Zeit in eher phlegmatische Gleichgültigkeit. Er folgt den Trägern fast wie betäubt von den vielen extremen Eindrücken.

      Auf dem Weg zu dem hoffentlich richtigen Bahnsteig umkurven die Träger etliche farbige Tücher, die am Rand der Bahnsteige auf dem Boden liegen. Auf den meisten sitzt eine Frau mit einem oder mehr Kindern und diversen Utensilien, wie Töpfen und Behältern. Erik wundert sich zunächst, warum diese Tücher mitten auf dem Bahnsteig liegen und warum alle respektvoll diese Decken umrunden. Das ist nicht ganz selbstverständlich bei so vielen Menschen, die sich hier dicht gedrängt bewegen. Langsam dämmert es ihm: diese Tücher markieren den Wohnbereich einer Familie. Sie haben keine Wohnung, sondern leben halt dort, wo sie arbeiten. Die Frau hütet den Platz und der Mann ist vielleicht als Kofferträger in Eriks Karawane unterwegs. Schließlich hält die Reisegesellschaft mitten auf einem Bahnsteig an und stapelt die Kisten übereinander zu einem ansehnlichen Lager. Der Zug ist noch nicht da und Erik hat somit Zeit, das Treiben zu beobachten. Die Menschen sehen alle irgendwie müde aus. Es ist verständlich, da es Abend ist und sicher ein anstrengender Tag hinter ihnen liegt. Ein jeder eilt irgendwohin. Entweder als Reisender, der seinen Zug nicht verpassen möchte, oder als Händler, der seinen Tee, Reiskuchen oder sonst etwas an die Reisenden verkaufen möchte. Vereinzelt kann Erik beobachten, wie ein Mensch auf die Gleise springt und in der Hocke sitzen bleibt. Es ist für viele wohl die einzige Möglichkeit, ihre Notdurft zu verrichten. Das erklärt dann auch den penetranten Gestank. Ständig laufen Händler an ihm vorbei, die irgendwelche Bonbons, Zigaretten und sonstige Kleinigkeiten anbieten. Dazu rufen Sie mit einer überraschend lauten Stimme in einem ständigen und schnellen Singsang: »Toddi toddi toddi …«

      Eriks Träger haben sich sofort wieder aus dem Staub gemacht ohne etwas zu sagen und auch ohne Geld zu verlangen. Erik fragt sich, ob er das Gepäck jetzt alleine in den Zug schleppen muss, oder ob die Träger wieder zurückkommen. Vielleicht warten sie auch nur, bis der Zug kommt und nehmen die Gelegenheit wahr, in der Zwischenzeit noch für andere Reisende tätig zu werden. Eine Sitzgelegenheit gibt es nicht. Also steht Erik einfach so am Rande seines Gepäckberges und studiert die Szenen um sich herum. Plötzlich sieht er mit Entsetzen, wie eine Ratte in seinem Gepäcklager verschwindet. Es ist sinnlos, da jetzt etwas zu unternehmen. Vermutlich würden die Inder es nicht verstehen, wenn er sich da jetzt aufregt. Also bleibt nur die Hoffnung, dass die Ratte nicht die Koffer und Kisten anknabbert und als blinder Passagier mit reist.

      Als dann der Zug einfährt, ist Erik zunächst irritiert, weil die Träger immer noch nicht wieder da sind. Natürlich hat Erik ein Ticket erster Klasse erhalten. Der Begriff erste Klasse ist allerdings immer relativ zu sehen und orientiert sich an dem landestypischen Standard. »First Class« im Deradhun Express bedeutet, dass maximal 4 Personen im Abteil sind und in der Nacht jeder eine eigene Liegefläche bekommt. Das ist wichtig, da man diese nicht mit einem anderen Reisenden teilen muss, wie es in der nächst niedrigeren Klasse der Fall ist. Erik stellt fest, dass auf dem Ticket extra ausgewiesen ist: »First Class AC«. Was so viel bedeutet wie: eigenes Bett im 4 Bett compartment inklusive Klimaanlage und Deckenventilator. Bei der Einfahrt des Zuges sieht Erik, dass die hinteren Abteile nicht einmal Fenster, sondern lediglich Gitter vor den Öffnungen haben. Von daher reist er geradezu herrschaftlich. Gerade als Erik sich nach den Trägern umsieht, tauchen sie auch schon wieder auf und beginnen sofort damit, die Kisten in ein Gepäckabteil des Schlafwagens zu befördern. Erik ist wieder überrascht, wie flink und behende die Kofferträger den Berg an schwerem Gepäck verstauen. So oft, wie der Chef der Träger sich verneigt und »Thank you, Sir.« sagt, muss Erik ihn allerdings deutlich überbezahlt haben.

      Im Zug stellt Erik fest, dass er das Abteil mit zwei Japanern teilt. Da er Japaner bisher als Ästheten kennengelernt hat, die viel Wert auf Sauberkeit und Hygiene legen, werden Japaner die Umstände in diesem Land vermutlich noch schlimmer empfinden als Europäer. Japaner sind sehr auf Distanz und Reinlichkeit bedacht. Ein Großteil der Japaner lehnt es ab, ein gebrauchtes Fahrzeug zu erwerben, weil die Sitze, Teppiche, das Lenkrad, usw. von anderen Menschen berührt wurden. Einige Fahrzeughersteller haben inzwischen ein Geschäft daraus gemacht, indem sie speziell aufbereitete Gebrauchtfahrzeuge anbieten, bei denen alle diese Teile ausgetauscht werden. Dieses nackte, dreckige Leben in Indien muss für einen japanischen Ästheten wohl eine harte Probe darstellen. Die Mitreisenden von Erik lassen sich aber nichts anmerken. Die Betten im Abteil sind schon gemacht, als sie das Abteil betreten. Es sieht alles ordentlich aus. Auch die Decken und Tücher sind frisch gewaschen und gestärkt. Erik fragt sich, ob diese Wäsche auch per Hand an irgendeinem Fluss gewaschen wird. Eigentlich ist es Erik egal, weil er mittlerweile doch recht erschöpft ist. Er legt seine Reisetasche an das Fußende und klettert in das obere Bett, wobei er sich angezogen auf das Bett legt, ohne sich zuzudecken.

      »Mein Gott, wenn ich überlege, was ich in den letzten zwei Tagen alles erlebt habe? Das reicht eigentlich schon für einen ganzen Monat!«, überlegt Erik, als er auf dem Rücken liegt und die Anspannung etwas von ihm abfällt.

      Erfreut stellt er fest, dass er sogar eine eigene Leselampe hat, so dass er etwas lesen könnte, wenn er denn wollte. Während er noch nachdenkt, ob er sich eine Zeitschrift nehmen soll, bemerkt er das Zeremoniell, mit dem die Japaner zu Bett gehen. Es ist eindeutig zu erkennen, wer der Chef und der Untergebene ist. Der Untergebene steht mit den Händen an der Hosennaht in halb gebeugter Stellung zwischen den Liegeflächen und murmelt irgendwelche »Gute Nacht Grüße« für seinen Chef. Erst dann, nachdem sein Chef sich endlich auf dem oberen Ruhelager gebettet hat, begibt sich auch der Untergebene auf seine Ruhestätte. Das Positive an Japanern ist, dass sie versuchen, unauffällig und höflich zu sein. Von daher sind es durchaus angenehme Mitreisende. Als der Zug sich in Bewegung setzt, ist Erik zunächst von dem deutlichen Schaukeln irritiert, da dies auf krumme Schienenwege hindeutet. Es fühlt sich an, als ob der Zug über einen alten Rumpelweg fährt und dabei von rechts nach links schwankt. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich aber auch daran. Zusammen mit dem regelmäßigen Rattern, das von den Übergängen der Schienen verursacht wird, fällt Erik in einen leichten Schlaf. Mehrfach in der Nacht wacht er zwar auf, da jedes Mal, wenn der Zug in einem Bahnhof anhält, zuerst die Bremsen fürchterlich quietschen und dann beim Anfahren ein kräftiger Ruck, begleitet von einem lauten Knallen, durch das Abteil geht. So schläft Erik in Etappen zwischen den Bahnhöfen und hat keine Ahnung, wo sie sind und wie gut sie vorankommen. Er ist gerade wieder eingeschlafen, als die Tür des Abteils geöffnet wird.

      »Sir, Kota! 15 minutes, please.«

      Der Schaffner steht mit einem Glas Tee in der Tür und weckt Erik. Erik hätte jetzt gerne einen starken Kaffee, würde notfalls auch Tee akzeptieren, lehnt den Tee allerdings dankend ab, da er den hygienischen Verhältnissen nicht ganz traut. Er fühlt sich wie gerädert. Durch die Zeitumstellung, den Flug, die Aufregung beim Zoll und die ungewohnte Bahnfahrt hat er in den letzten zwei Tagen nicht besonders viel geschlafen. Mit glasigen Augen und Haaren, die durch das Kopfkissen auf der einen Seite plattgedrückt und auf der anderen Seite widerspenstig abstehen, sitzt Erik schlaftrunken auf der Bettkante und hofft, dass diese Reise bald ein Ende nimmt. Um das Ausladen muss sich Erik zum Glück keine Sorgen machen. Kaum hat der Zug gehalten, hat der Schaffner sofort Träger organisiert, die sich die Kisten greifen und nach draußen schleppen. Erik lächelt in sich hinein, wenn er an seine anfänglichen Sorgen mit Blick auf den Berg Gepäck zurückdenkt. Zu seiner Erleichterung konnte er erleben, dass derartige Tätigkeiten in Indien überhaupt kein Problem darstellen. Man muss nur mit dem Finger schnippen und schon hat man beliebig viele Helfer zur Verfügung. Beim Verlassen des Zuges wartet der Schaffner an der Tür und Erik gibt ihm 10 Rupien Trinkgeld.

      Das Ende der Welt

      Als Erik in der Morgendämmerung aus dem Zug steigt, hat er unwillkürlich das Gefühl, als wäre er Teilnehmer in einem Western: Die trockene, staubige Luft, das einsame Ortsschild der Haltestelle, das im Wind langsam hin und her schwingt. Es hängt etwas schief, weil eine Seite der Aufhängung kürzer wie die andere Seite ist. Es hat sich wohl schon seit Jahren keiner mehr darum gekümmert. Eine einsame Krähe sitzt sich auf einem Pfahl und begrüßt krächzend den Protagonisten, der an dieser einsamen Bahnhofsstation aussteigt, um einen Job zu erledigen. Der Bahnhof ist bis auf wenige Ausnahmen