Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan)

Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski


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Kindheit bis in die Ehe hinein viel in mir erlebt, was ich mit meinem Manne nie erleben konnte. Ich habe einen guten, nüchternen, praktischen Mann, der ehrgeizig seine Familie allein ernährt und brave Menschen aus seinen Kindern machen will. Aber Träume und Ideale, alles das, was ich in ... aus meiner Jugend wiederfand, das ist meinem Mann gänzlich fern ...“ Sie sieht in der Begabung ihres Kindes das glücklose Erbe ihres eigenen Vaters, der Arbeiter in einer Großstadt Mitteldeutschlands war. Er hatte zwölf Kinder zu versorgen. In seiner Freizeit, so erzählt seine Tochter, habe er stets geschrieben, und auf die Frage, was er denn aufgezeichnet habe, antwortete sie: „Er schrieb über alles, was groß und schön ist.“ Aber die Mutter habe später alle Papiere verbrannt. Das „später“ bezeichnete die Zeit, als er, gebrochen vom Zwiespalt des Lebens, nach einigen Jahren im Irrenhaus gestorben war. Die Tochter kannte das Geschick des Großvaters, und mehr als einmal hat sie die Angst ausgesprochen, dass sie ähnlich wie er am Leben zu Grunde gehen werde. Alle, die sie im Leben gekannt haben, bezeugen, dass ihr jüngstes Schwesterchen, von dessen Ankunft sie eine so wundervolle Skizze schreibt –, in jeder Hinsicht ihr Ebenbild sei. Jedenfalls äußern sich bei dem Kind heute schon Gaben, die auch ihr ein unendlich glücklicher Reichtum, aber ebenso leicht ein tragisches Schicksal werden können.

       Eine weitere, wichtige Frage, die zugleich sehr schwer zu beantworten ist, lautet: Ist das Buch wahr? Wir müssen da unterscheiden. Das Tatsächliche in Bezug auf Menschen, Dinge, Ereignisse konnte bis auf einiges Wenige, das zudem auch kaum wichtig ist, nachgeprüft werden und erwies sich als durchaus echt. Die weiteren Fragen: Sagt sie alles? schmückt sie nicht aus? biegt sie die Tatsachen nicht zu ihren Gunsten um? sind nicht leicht zu beantworten, und eine restlose Klarheit in dieser Hinsicht ist für die einzelnen Tatsachen wohl auch zu entbehren. Wer die Tagebücher der Jungmädchen kennt, und wer die Jungmädchen kennt, die Tagebücher schreiben, der weiß, dass den Blättern trotz der Versicherung, dem verschwiegenen Freund alles anzuvertrauen, doch nicht alles gesagt wird. Wer wollte der Schreiberin daraus einen Vorwurf machen? Sodann schreibt sie so, wie sie selber ihr Leben schaut und erlebt, und das schließt selbstredend hie und da objektive Richtigkeit aus, gibt uns aber ein umso deutlicheres Bild des schauenden und erlebenden Menschen. Wer das Buch vom psychologischen Standpunkt aus würdigt, wird diese Punkte sicher berücksichtigen müssen. Wenn uns nun Menschen, die sie genau kannten, sagen, dass das Mädchen wahrhaftig und ehrlich war, und wenn wir feststellen, dass alles Tatsächliche in dem Buche stimmt, dann dürfen wir wohl annehmen, dass sie bewusst niemals täuschen, dass sie auch vor sich ihr Leben nicht fälschen wollte. Die Schilderungen, die sie z. B. von ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihrem Heim gibt, die aus einer Seele stammen, welche durch Menschen und Dinge hindurch das Wesen schauen kann, entsprechen dennoch ganz und gar der Wirklichkeit, wenn auch wohl jeder, der das Heft las und dann das arme Häuschen sieht, sich zunächst nicht zurechtfinden kann, bis er einmal die Schilderungen und Berichte nachprüft und feststellt, dass er wirklich in ihrer Heimat steht, dass er sie aber durch ihre Kinder- und Künstleraugen schauen muss.

       Oft wurde gefragt, ob das Mädchen nicht doch gefallen sei, und wenn, dann müsse man ihr aus dem Verschweigen doch den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit machen. Ganz abgesehen davon, dass eine moralische Verpflichtung zum Bekenntnis für sie nicht bestand, war es in ihrer Lage das Selbstverständliche und Natürliche, dass sie ein solches dem Buche nicht anvertraute. Die Schuld, deren sie sich wohl bewusst ist, und von der sie auch einige Wochen später in Verbindung mit der Klage über die für sie so unverständlich schwere Buße schreibt, war für sie die Tat einer leidenschaftlichen Stunde, aber nicht die eines oberflächlichen Leichtsinns; sie glaubte keinen Grund zu haben, an der ehrlichen Treue des Mannes, mit dem sie verlobt war, zu zweifeln. Erst als die Tat, losgelöst vom ersten Eindruck, für sie ganz und nur Schuld war, spricht sie davon. Ob der Mann in Wirklichkeit so war, wie ihre Liebe ihn darstellt, ließ sich nicht ermitteln.

       Eine weitere Frage, die nach dem, was wir hier schon ausführten, vielleicht noch dunkler wird, lautet: Wie konnten die Eltern, wie konnte die Mutter das Kind in doch offensichtliche Gefahren hineingehen lassen? Als der Jugendrichter diese Frage stellte, hat die Mutter geantwortet: „Unser Kind war immer fleißig und gehorsam, sie hat von morgens bis abends für uns gearbeitet, da glaubten wir, ihr erlauben zu dürfen, bis 9 oder 10 Uhr mit ihren Bekannten spazieren zu gehen.“ In vertraulichem Gespräch gefragt, bekannte sie, dass sie erst durch das Geschick ihres Kindes die Gefahren und die Schlechtigkeit der Welt kennen gelernt habe. Bis zu ihrem achtzehnten Jahre habe sie unter der Aufsicht ihrer sehr energischen und religiösen Mutter schwer arbeiten müssen, während ihrer zweijährigen Verlobungszeit habe die Mutter zum Beispiel niemals erlaubt, dass sie mit ihrem Bräutigam allein spreche. Dann kam die Ehe mit dem ersten schweren Jahr des gegenseitigen Eingewöhnens. Als dann die Kinder kamen, sei Ihr ganzes Sinnen und Trachten durch die neue Aufgabe gefesselt worden. Sie habe niemals außer dem Hause ihre Freuden gesucht, und dann habe der Krieg ihre Lasten verdoppelt und ihr Leben damit noch mehr auf den engen Kreis ihrer Kinder beschränkt. Wenn sie ihrer Tochter Freiheiten gegeben habe, so sei sie darin auch dem allgemeinen Brauch in ihren Kreisen gefolgt, sie selber habe ja keine Erfahrung gehabt. Es sei aber auch ihr Wunsch gewesen, dass die Tochter sich bald verheirate; sie habe das Gefühl gehabt, dass das nach dem Erlebnis in Berlin eine Notwendigkeit gewesen sei, und sie wolle auch ruhig gestehen, dass sie ein wenig stolz war auf die für ihre Verhältnisse doch vornehmen Freier. Man habe ihr oft den Vorwurf gemacht, sie halte ihre Kinder für etwas Besonderes; sie wisse darauf nur zu sagen, dass sie sich in ihren Kreisen nicht heimisch gefühlt habe, dass sie nur unter den Ihrigen glücklich gewesen sei.

      Wenn man auch kaum verstehen kann, dass die Eltern den Verkehr mit Mädchen zuließen, von denen sie wenigstens ahnten, dass sie schlecht waren, so haben sie eben einerseits nicht glauben können, dass ihr Kind sich verführen lasse, und anderseits war es eine übel angebrachte Gutmütigkeit und Leichtgläubigkeit. Der Schaden, durch den diese armen Eltern die Erziehungsweisheit für ihre übrigen Kinder erkaufen mussten, ist so unsagbar groß, dass er wohl ausreichen möchte, um auch andern Eltern und Führern die Augen zu öffnen.

       Es war das Unglück des Mädchens, dass es durch die Reise nach Berlin, durch diesen Kinderstreich – von ähnlichen weiß wohl manche Geheimchronik aus besten Familien zu berichten, denen andere Mittel zur Verfügung standen als die Hilfe der Polizei, um ein Kind zu suchen und zu finden! – nachträglich sowohl bei der Polizei, die trotz aller Zeugnisse immer noch die Harmlosigkeit der Reise bezweifelte, als auch bei der Halbwelt bekannt geworden war. Als sie starb, stand sie wohl gerade an einem Wendepunkt, und es ist schwer zu sagen, ob sie von da an schnell in die Tiefe gezogen worden wäre, oder ob die Menschen, die ihren Charakter und ihre reiche Veranlagung kannten, bereit und fähig gewesen wären, ihr junges Leben zu retten.

      Etwa zwei Wochen vor ihrem Tode sprach das Jugendgericht sie ihrem Elternhause zu in der Erkenntnis, dass sie keinesfalls zu den Verlorenen gehöre, und dass die Eltern Schutz und Aufsicht sein konnten. Die Verhandlungen waren ihr eine letzte seelische Qual. Sie betrachtete die amtlichen Frager als ihre Feinde, gegen die sie sich durch stolzes Schweigen wehren zu sollen glaubte. Eine Überführung ins Elternhaus konnte aber nicht sogleich stattfinden, da sie typhusverdächtig war. Als man dann einige Tage später erkannte, dass es sich nicht um eine ansteckende Krankheit handelte, brachte man sie den Eltern. Nach acht Tagen starb sie, am 1. Juni 1924.

       An dem Original des Tagebuches wurde nichts geändert, natürlich mit Ausnahme sämtlicher Namen. Eine Verbesserung der Interpunktion und hie und da auch eines Schreibfehlers dürfte wohl nicht unter den Begriff Änderung fallen. Die Eltern gaben nur schweren Herzens ihre Zustimmung zur Veröffentlichung; aber wir glaubten ihnen die Versicherung geben zu dürfen, dass allen Lesern die Ehrfurcht vor der Schwere ihres Leides jedes ungütige und unnütze Fragen verbiete.

      * * *

      Das Tagebuch – Jahr 1922

       Das Tagebuch – Jahr 1922

      20. Mai 1922

      Noch ist ja die blühende, goldene Zeit,

       o du schöne Welt, wie bist du so weit!

       Und so weit ist mein Herz und so blau wie der Tag,

       wie die Lüfte durchjubelt vom Lerchenschlag!