Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan)

Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski


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kann. Sabine aber hat Fritz das Stricken gelehrt, weil jeder Schäfer das tut. Träumen ist nicht immer gut und taugt nicht immer fürs Leben, schrieb sie. Fritz habe große Lust zum Stricken und kann nun schon einen fehlerfreien Strumpf stricken aus Heidschnuckenwolle.

      So leb' nun wohl, liebes Buch, in 5 Wochen sehen wir uns wieder.

      21. November 1922

       Ich habe Dir viel mitzuteilen, denn ich war länger fort, als ich dachte. Ich weile zum Besuch, und ich habe Fritz, Rudel, Emy und Berni mitgebracht. Mein langer Körper gebrauchte gute Nahrung, und darum hatte Mutti versucht, mich von der Haushaltungsschule frei zu machen. Und es gelang. Nun hatte ich aber große Sehnsucht nach Hause. Wir kamen ganz unverhofft, und Papa und Mama waren voller Freude, und das Haus war voll. Wir brachten so viel Lebensmittel mit, Mutti war ganz gerührt. Als alles ausgepackt war, Wurst, Speck, Schinken, Butter, Mehl, Obst und sämtliche Kleidungsstücke, da war alles belegt und kein Plätzchen mehr zum Sitzen da. Klein Lotti hat sich glänzend herausgemacht, ist zu drollig. Mama und Papa behaupten, wir seien alle dicker geworden, und ich sei sehr gewachsen. Am 28. Juli starb Herr Ringmann am Herzschlag. Er war so gesund, so blühend und rüstig und starb so plötzlich. Am selben Tage traf auch mich ein Unglück. Wir waren beim Heuen. Ich stand zwischen zwei Wagen und war im Begriff, auf den Wagen zu steigen. Plötzlich schlug ein Pferd aus und traf mich an den Leib. Vor Schmerzen fiel ich bewusstlos zusammen. Man brachte mich auf einer Bahre ins Haus, zur selben Zeit, als Sabine ihren toten Vater mit Hilfe einiger Nachbarn in seine Kammer trug und ihn bettete. Ich war 14 Tage sehr krank, und der Arzt kam jeden Tag, dann erholte ich mich langsam. Meinen Eltern schrieb man nichts von dem Unglück, denn ich wollte es nicht, weil sie wohl in größter Sorge gewesen wären. Ich sage es ihnen auch jetzt noch nicht, und Fritz muss auch schweigen. Sie würden mich auf keinen Fall wieder nach Steinbach lassen. Nur Dir vertraue ich es an, liebes Buch.

      10. Dezember 1922

       So gerne ich noch bis Weihnachten im Elternhause geblieben wäre, ich muss nun wieder fort. Ich gehe gern und doch so schwer. Meinem Körper zum Nutzen und deshalb meinen Eltern zur Freude, gehe ich gern. Meine Tante Grete hat sich verheiratet und wohnt in Rahndorf. Sie hat ihrem Jugendfreund Heinz Müller die Hand zum Ehebund geboten, und beide haben sich sehr lieb. Onkel Heinz hat in Rahndorf ein Partiewarengeschäft und auch Verkauf von Herren- und Damengarderobe. Ich war mit Papa zum Besuch, und Papa kaufte mir einen neuen Mantel, grau mit roten Karo, sehr kleidsam und warm. Ich habe mich riesig gefreut, des Mantels wegen, und weil ich einen so lieben Papa habe. Mutti hat mir ein Kleid angefertigt, und so ausstaffiert kann ich wieder reisen. Wenn sie wüssten, wie unendlich gern ich bei ihnen bliebe; denn ich habe alle so sehr lieb. Und noch eins. Der älteste Sohn und jetzige Besitzer des Hofes ist oft so eigenartig zu mir, ich fürchte mich vor ihm. Er sieht mich oft so komisch an, und ich bin deshalb oft verlegen und flüchte, sobald ich ihn in meiner Nähe weiß. Er hat schon versucht, mich zu umfassen, aber ich wehrte ihm, weil er mich stets verfolgt und zwischen knirschenden Zähnen flüsterte: „Einmal fasse ich Dich doch, Du Racker.“ Ich kann niemand mein Leid klagen, ich bitte nur immer um Hilfe bei meinem Schutzengel, das gibt mir Mut. Bina, Anna und Hans meinen es sehr gut mit mir, ihretwegen fahre ich mit Freude hin, und Fritz ist ja auch bei mir. Hans ist wie ein Bruder zu mir und ganz anders als Heinz. In der ersten Zeit meines Besuchs in Steinbach war ich wild wie ein Junge, und Hans war stets mein Kamerad. Sobald er mich einmal erwischte, war es beim Heuen, beim Moorstechen, wo wir auf irgend eine tolle Idee kamen, zum Beispiel im Scherz beim Rangeln, dann hob er mich auf seinen starken Arm, blickte mich so lieb an und setzte mich dann behutsam nieder. In der Zeit meines Krankseins war er besorgt wie eine Mutter oder ein großer Bruder. Es war einmal beim Moorstechen. Ich geriet ins Moorwasser und rief in höchster Not: „Hans, Hans!“ Da lief er schnell herbei, hob mich auf seinen Arm und watete mit mir zurück. Dann setzte er mich hin und sagte: „Um ein Haar, und wir hätten kein Gretchen mehr gehabt.“ „Hans, wie soll ich Dir das jemals danken, Du bist so gut“, sagte ich. Er strich behutsam über meine vor Schreck kalten Hände und sagte: „Ich freue mich so, dass dir nichts passiert ist, Gretchen, und habe einmal ein liebes, kleines Mädchen auf dem Arm gehabt; und nun lache mal, und guck mich mal an, jetzt ist der Schreck ja vorbei.“ Wir lachten beide. Hans ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist klug, und ich habe viel gelernt von ihm. Er hätte studieren müssen. Die 2 Brüder sind grundverschieden. Ebenso beide Schwestern. Bina ist eine geborene Bäuerin; Anna dagegen hat Hang zum Besseren. Sie war im Kloster in Pension und möchte gern in die Stadt. So wird das Weihnachtsfest kommen, und ich bin fern vom Elternhause. Nur ein Wort, ein einziges Wort von mir, und man ließe mich nicht fort. Aber nein, sie erwarten mich dort, und zu jeder Zeit kann ich ja ins Elternhaus zurück. Und Weihnachten will Papa kommen. Er will ein Schaf kaufen und dasselbe geschlachtet mitnehmen. Wenn Papa kommt, bringt er Weihnachtskuchen mit, von Mutti gebacken. Darauf freue ich mich jetzt schon und Fritz auch. Diesmal will ich mein Buch mitnehmen, denn die Winterabende sind lang, es gibt oftmals ein einsames Stündchen, das ich dann benutzen will zum Plaudern. Dann fühle ich mich der Heimat und den Eltern nahe.

      Am 1. Weihnachtstage 1922

       Sie sind alle zur Kirche. Ich bin allein und voller Sehnsucht, darum leiste mir Gesellschaft, liebes Buch. Als ich gestern Abend zu Fritz ging, mich zog ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu ihm, am Heiligen Abend, da lag Fritz im Bett und weinte. „Fritz“, sagte ich. Doch weiter kam ich nicht vor Schluchzen. „Gretchen, woran denkst Du jetzt?“ fragte er leise. „Ach Fritz“, sagte ich, „jetzt sitzen sie zusammen beim brennenden Weihnachtsbaum. Mutti hat schönen Bohnenkaffee gekocht, und sie essen Kuchen dazu. Papa sitzt rechts in der Sofaecke, wie immer. Fritz, ich sehe alles so deutlich. Berni und Annchen haben irgendeinen Wunsch erfüllt bekommen. Wir haben immer noch kleine Wünsche gehabt, weil große nie erfüllt werden konnten, denn das Geld ist knapp. Aber stets waren wir zufrieden und dankbar. Nun schmiegen sie sich an Papa, der wohl eine gute Zigarre zur Feier des Tages raucht. Und jetzt denke ich an Lotti, ich sehe sie, Fritz, sie zappelt nach den Lichtern und jauchzt, und Mutti herzt und drückt das liebe Kleine. Wir sind heute arm, Fritz, denn wir sind fern von denen, die wir so innig lieb haben. Aber Fritz, ich fühle das, Mutti denkt in Sehnsucht an uns und weint wohl, wenn sie ganz allein ist. Gestern früh fragte ich Anna heimlich: ‚Wer schmückt denn den Weihnachtsbaum?‘“

      „Den Weihnachtsbaum?“ fragte Anna ganz verwundert.

      „Macht ihr denn gar keinen geputzten Tannenbaum?“

       „Nein, das gibt's hier gar nicht, höchstens da, wo ganz kleine Kinder sind, aber die verstehen ja auch nicht viel davon. Bei Binas Freundin ist, glaube ich, dieses Jahr wohl ein Baum und wohl der einzige im Dorf, denn sie hat 3 kleine Kinder und ist aus einer Gegend, wo ein geputzter Baum Sitte ist.“

      Mir kollerten die Tränen, ich dachte an Zuhause und an Fritz, der auch schon voriges Jahr ohne Baum war und gewiss voriges Jahr schon große Sehnsucht hatte, und er war ganz allein damals hier, und zu Hause glaubten wir ihn so glücklich und geborgen. Es war dann gestern Mittag nach dem Essen. Wir hatten das Gebet gesprochen. Da sagte Anna: „Macht Horns Lene einen Baum dies Jahr, Bine?“ Alle horchten auf, und wir sahen uns an, Fritz und ich. Und sie verstanden wohl alle. Bine ist ja wie eine Mutter. Heinz lachte und sagte: „Richtig, wir haben ja Kinder, Fritz ist verständig, aber das kleine Gretchen. Huch, jetzt heult sie schon.“ Er meinte es nicht böse, es ist seine Art so. Aber die Weihnachtsstimmung macht so weich. Hans sagte auch nichts. Er ging hinaus. Dann war es Nachmittag zwischen fünf und sechs beim Vesperläuten. Wir gingen von der Kirche fort und wollten nach Hause. Da kam Hans zu mir und sagte: „Komm Gretchen, wir machen noch einen kleinen Umweg, Fritz willst Du mit?“ Fritz kam mit.

       Wir gingen in die Heide zum Walde. Es hatte nur wenig geschneit, und jetzt war der Himmel sternenklar. Vor einem kleinen Tannenbäumchen machte Hans halt. Er faltete die Hände und sagte: „Lasst uns das Vaterunser beten.“ Wir beteten. Dann nahm er uns, links Fritz, rechts mich in den Arm und sagte: „Hier ist euer Bäumchen, liebe Kinder, und ringsherum leuchten euch die Sterne dazu, hier seid ihr dem lieben Gott und euren Eltern am nächsten, und eure Sehnsucht wird etwas gestillt. Ihr habt so liebe, warme Herzchen, und die Herzchen weinen heute. Seht mal, dieselben Sterne, die euch hier leuchten, und die der liebe Gott angezündet hat, die leuchten auch in Neuburg und leuchten jedem, der einsam und verlassen ist, und denkt daran, wie viele Kinder es gibt, die weder Vater noch Mutter haben,