Georg Schmuecker

Holderhof


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Ihnen wurde mitgeteilt, dass sich Ihr Sohn in einem Verließ auf einem verlassenen Bauernhof nahe des zukünftigen Braunkohlereviers Garzweiler II befand. Wegen des anstehenden Kohleabbaus waren zwei Dörfer und fünf Bauernhöfe umgesiedelt und verlassen worden.

      Bis die Polizei den Hof gefunden hatte, war es bereits dunkel. Sintflutartig strömte der Regen herab. Ein naheliegender Bach trat über die Ufer. Als die Polizei das von außen verschlossene Kellergewölbe fand, war Lukas bereits in dem überfluteten Raum ertrunken.

      Der tragische Tod des Jungen schlug hohe Wellen. Die meisten Entführungen endeten mit der Freilassung des Opfers und früher oder später wurden die Täter gefasst. Aber hier war alles schief gegangen. Alle Beteiligten machten sich Vorwürfe. Peter Sandel machte sich Vorwürfe, den Reporter nicht bemerkt zu haben. Der Chefredakteur, der von der Aktion seiner Leute noch vor der Geldübergabe erfahren hatte, warf sich vor, dass er das Ganze nicht energisch genug unterbunden hatte. Der lokale Polizeichef machte sich Vorwürfe, dass sie unkoordiniert und mit schlechter Ausrüstung den Hof abgesucht und dadurch wertvolle Zeit verloren hatten.

      Es wurde zu einem Trauma für alle.

      Samstag 02. Juni, Köln-Ossendorf

      Blaschek starrte an die Decke seiner Zelle.

      „Drei Wochen noch“, sagte er zu sich selbst.

      Er hatte das Angebot, das ihm vorlag, noch mal durchdacht und sich die Zukunft ausgemalt, aber mit einem Mal kamen ihm Bedenken. Was, wenn sich die Welt so verändert hatte, dass er sich nicht mehr zurecht fand. Computer, Handy und Internet kannte er nur aus dem Fernsehen.

      "Verdammter alter Narr", raunzte er sich selbst an.

      Er war seiner Umwelt immer überlegen gewesen. Immer hatte er schneller begriffen und skrupelloser seinen eigenen Vorteil gesucht als Andere. War dieser Vorteil nun dahin? War die Welt so, wie das Fernsehen sie zeigte?

      "Nichts wird anders sein", sagte er, kratzte sich am Bauch und wiederholte es noch einmal.

      Wer sich nimmt, was er will und seiner Umwelt zeigt, dass er weiß, was er will, und nichts zu verlieren hat, wird gewinnen. Und manchmal einen hohen Preis zahlen, dachte er sich. Sozialdarwinismus funktioniert, solange es Menschen gibt, auch mit technischem Fortschritt. Er stand auf, schaute in den kleinen Spiegel an der Wand und betrachtete ausgiebig die Falten in seinem Gesicht. Der Knast hatte ihm nicht gut getan. Er fand, dass er grau aussah. Der Haaransatz hatte sich um einige Zentimeter nach oben geschoben. Ansonsten trug er noch immer die Haare wie damals. Vorne kurz, hinten länger. Den Oberlippenbart hatte er sich wegrasiert, dann aber doch wieder wachsen lassen. Er fühlte sich nackt und durchschaubar ohne ihn.

      Er zwinkerte seinem Spiegelbild zu und sagte leise:

      "Hey Baby, Lust auf ne Nummer?"

      Da er mit dem Ergebnis seines Lächelns nicht zufrieden war, murmelte er ein "Scheiße" vor sich hin. War es normal, mit sich selbst zu reden, fragte er sich. Aber im Knast gibt es ja nicht viele zum Unterhalten. Sein Zellennachbar hatte sich vor ein paar Wochen verletzt und war in den Krankentrakt verlegt worden. Vielleicht hatte er etwas nachgeholfen. Aber wen interessierte das schon. Seitdem hatte er die Zelle für sich allein.

      "Noch mal kriegen die misch nit", sagte er zu sich und legte sich wieder auf die Pritsche.

      Seine Zelle wurde aufgeschlossen. Betont langsam stand Blaschek auf und schloss sich den anderen Gefangenen an, die zum Mittagessen gingen. Einige unterhielten sich. Das Fresstaurant, wie sie es nannten, befand sich im Erdgeschoss. Jeweils zehn Mann passten an einen der Tische, die in ordentlichen Reihen standen. Sie saßen auf Bänken und aßen mit Löffeln. Messer wurden wegen der Verletzungsgefahr nicht ausgegeben. Zur Auflockerung hingen ein paar Poster auf dem grauen Putz der Wände. Blaschek ließ sich seinen Teller mit Leberkäse, Bratkartoffeln und brauner Sauce füllen. Es war Samstag, das bedeutete, es gab Schokopudding als Nachtisch. Einer der wenigen kleinen Höhepunkte der Woche.

      Blaschek ging auf den Platz zu, der seit sieben Jahren sein Platz war. Nicht zu nah an den Wärtern, gute Übersicht und am Rand der Bank. Plötzlich wurde er angerempelt. Vor ihm stand der Belgier. Blaschek schaute ihn an, dann auf sein Tablett. Sauce war über seinen Tellerrand geschwappt. Der Belgier war einen halben Kopf größer als Blaschek und gut trainiert. Die Gespräche im Raum verstummten. Blaschek sah dem Belgier in die Augen. Niemand rührte sich. Zeit verstrich. Der Belgier begann zu schwitzen.

      „Deinen Schokopudding“, sagte Blaschek endlich.

      Der Belgier nahm sein Schälchen, stellte es auf Blascheks Tablett. Blaschek ging zu seinem Platz. Der Belgier blieb noch einen Moment stehen. Die Gespräche gingen weiter.

      Blascheks Platznachbar war ein Hüne namens Pewe.

      „Und, wie lange noch“, fragte Pewe.

      „Willste misch dat jetzt jeden Tag fragen? 23 Tage noch.“

      „Und, wirst du den Riemke dann alle machen?“

      „Bin isch jemals jemandem wat schuldig geblieben?“

      Sie aßen wortlos weiter.

      Zehn Minuten später ertönte der Gong. Die Männer erhoben sich und gingen in den Hof. Eine Stunde später waren sie wieder in ihren Zellen.

      Dienstag 5. Juni, Köln-Bayenthal

      Stefan Riemke fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz, ein weiteres Mal an seinem Haus in Köln-Bayenthal vorbei. Er ärgerte sich, dass er den letzten Anruf im Büro noch entgegengenommen hatte. Nun war er eine Viertelstunde zu spät dran und alle Parkplätze der Straße waren belegt. Nach einer weiteren Runde wurde ein Platz frei.

      Stefan stieg aus, nahm Aktentasche und Jackett unter den Arm und ging mit müden Schritten auf das rot geklinkerte Reihenhaus zu, dass er seit einem Jahr sein eigen nannte. Bevor er die Tür aufschloss, rekapitulierte er noch einmal, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, damit er ihn am nächsten Morgen wiederfand.

      Eine halbe Stunde später saß er mit seiner Frau und seinen Kindern beim Abendessen. Er war angespannt und in Gedanken. Erst, als seine Tochter ihn zum dritten Mal ansprach, reagierte er.

      "Papa, jetzt hör mir doch mal zu", sagte Laura mit genervtem Unterton.

      "Was gibt‘s denn mein Schatz?" Er versuchte sich zu konzentrieren.

      "Wollen wir nach dem Essen etwas spielen?"

      "In Ordnung, spielen wir Geheime Botschaften", antwortete Stefan.

      "Och, nee, nicht schon wieder", maulte Laura.

      "Doch komm, Geheime Botschaften", meldete sich Leo.

      Leo war elf und Laura dreizehn Jahre alt. Vor wenigen Wochen hatte Leo zum ersten Mal gewonnen und seitdem wollte er es dauernd spielen.

      Geheime Botschaften hatte sich Karl Riemke ausgedacht, als sein Sohn 15 Jahre alt war. Es war ein Familienspiel. Das Familienspiel der Riemkes. Erst vor kurzem hatten Leo und Laura festgestellt, dass sie die Einzigen waren, die dieses Spiel spielten. Und das machte es zu etwas Besonderem. Wenn sie versuchten, es mit Freunden zu spielen, waren die vollkommen überfordert. Ziel des Spiels war es, eine geheime Botschaft so zu schreiben, dass der Gegenspieler sie nicht entschlüsseln kann, der Mitspieler aber schon.

      Leo suchte für jeden ein Blatt und einen Stift. Die Regeln waren einfach. Alle würfelten, und wer die meisten Punkte hatte, begann und war erster Setzer. Die anderen waren im Uhrzeigersinn ein Verschlüsseler und zwei Entschlüsseler. Der Setzer dachte sich eine kurze Information aus. Diese musste der Verschlüsseler in 3 Minuten in einen unverfänglichen Text, die geheime Botschaft, von maximal 50 Worten einbinden. Aufgabe des Verschlüsselers war es, die Botschaft so zu formulieren, dass der erste Entschlüsseler sie nicht entschlüsseln konnte, der zweite aber schon. Der erste Entschlüsseler bekam die Botschaft für eine Minute zu sehen. Wenn er sie entschlüsselte, bekam der Verschlüsseler einen Punkt abgezogen und der erste Entschlüsseler gewann einen