Geshe Kelsang Gyatso

Sinnvoll zu betrachten


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gleiche Überlegung kann auch auf die Person angewendet werden, die wir jetzt als unseren guten Freund ansehen. Obwohl sofort ein warmes Gefühl in unserem Herzen entsteht, wenn wir den Freund erblicken oder auch nur an ihn denken, so war dies nicht immer so. Früher in diesem oder in vergangenen Leben gab es Zeiten, da war dieser Freund oder Verwandte unser größter Feind und hat uns großes Leid zugefügt. Und es braucht nicht viel, eine kleine Meinungsverschiedenheit, ein unüberlegtes Wort oder eine unbedachte Handlung, und sofort haben wir uns der Person entfremdet, an der wir jetzt so stark hängen.

      Genauso war uns der Fremde nicht immer gleichgültig, und er wird es auch in Zukunft nicht bleiben. Es gab Zeiten - im Moment so unsichtbar für uns, daß wir kaum an ihre Existenz glauben - in denen diese Person unser Todfeind war; und es gab andere Zeiten, in denen er unser liebster Freund und Beschützer war.

      Mit Beispielen aus unserer eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung anderer und durch die Anwendung logischer Gedankenfolgen können wir zur Überzeugung gelangen, daß es sehr kurzsichtig und letztlich ein Irrtum ist zu denken, jemand sei dauerhaft oder inhärent unser Freund, Feind oder ein Fremder. Wenn es der Fall ist, daß diese drei Positionen nur vorübergehend und wechselhaft sind, wer ist dann das richtige Objekt unserer Anhaftung oder unseres Hasses? Wenn wir uns berechtigt fühlen, gegenüber unserem jetzigen Feind Haß zu empfinden, dann müßten wir diesen Haß auf alle Wesen richten, weil wir in der Vergangenheit alle zu irgendeinem Zeitpunkt als unsere Feinde betrachtet haben. Und wenn es richtig wäre, gegenüber unseren Freunden eine bevorzugende und anhaftende Haltung einzunehmen, weil sie uns vor kurzem geholfen haben, dann sollten wir eigentlich die gleichen Gefühle für alle Wesen haben, da sie alle zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit sehr gütig zu uns gewesen sind und sogar unsere Mütter waren.

      Wenn wir uns durch intensive Meditation mit den obengenannten Gründen und Beispielen vertraut machen und versuchen, die Menschen auf andere Weise zu betrachten, dann werden wir erkennen, wie engstirnig es ist, einzelne Menschen stark zu bevorzugen, während wir anderen gegenüber gleichgültig oder sogar feindlich eingestellt sind. Statt wie bisher einer harten und schnellen Klassifizierung in Freunde, Feinde und Fremde zu folgen und damit voreingenommen zu sein, können wir wahren Gleichmut entwickeln. Er ist die Grundlage für die Liebe und das Mitgefühl, die notwendig sind, um den kostbaren Bodhichitta zu erzeugen und die Erleuchtung zu erlangen. Da dieses Ziel so außergewöhnlich lohnend ist, sollten wir unsere gegenwärtigen Vorurteile nicht ungeprüft lassen, sondern in der beschriebenen Art und Weise untersuchen.

      An dieser Stelle könnten aufgrund der Meditationstechnik, die eben beschrieben wurde, Zweifel entstehen. Es hieß, daß der Zweck der Entwicklung von Gleichmut darin bestünde, uns darauf vorzubereiten, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Wir könnten uns deshalb fragen: «Wenn es richtig ist, alle Wesen als meine Mütter zu betrachten, weil sie angeblich in der Vergangenheit meine Mütter gewesen sind, dann wäre es doch genauso richtig, sie alle aus dem gleichen Grund als meine Feinde zu betrachten?» Um den Trugschluß dieser Behauptung zu erkennen, müssen wir verstehen, daß die Gründe, die dazu führen, jemanden als unseren Feind zu betrachten, im Grunde wenig stichhaltig und das Resultat einer illusorischen Vorstellung unserseits sind. Die Gewohnheit, andere - unsere sogenannten Feinde - für unsere Probleme und Leiden verantwortlich zu machen, ist eine verblendete Denkweise, eine Denkweise, die nicht erkennt, daß letztlich unser eigener Geisteszustand und nicht irgendein äußerer Umstand für alle unsere Leiden verantwortlich ist.

      Die Ursache für den Entschluß, jemanden als unseren Feind zu betrachten, ist eine falsche Projektion unseres Geistes, eine fehlerhafte Vorstellung der Ereignisse. Wir betrachten den Schaden, den wir durch jemand anderen erleiden, als berechtigten Grund, diesen als Feind zu betrachten und ihm mit Feindseligkeit entgegenzutreten. Dabei vergessen wir die Güte und elterliche Fürsorge, die wir früher von ihm erhalten haben, und sind uns unserer eigenen Schuld an unseren Leiden nicht bewußt. Obwohl wir dies ständig tun, ist es in Wirklichkeit völlig verblendet und unhaltbar. Wie im nächsten Kapitel erklärt wird, ist es andererseits nicht falsch oder verblendet, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Das ist wahr und nachprüfbar und öffnet nicht nur das Tor zur weiteren spirituellen Entwicklung, sondern bringt uns sofort Glück und Wohlbefinden.

      Das Ziel der Meditation über Gleichmut ist es, alle voreingenommenen Geisteshaltungen zu entfernen, um damit alle Wesen ohne Unterschied als unsere Mütter betrachten zu können. Das wird uns wiederum motivieren zu überlegen, wie wir ihre unendliche Güte erwidern können. Wenn wir infolge dieser Meditation sogar unseren ärgsten Feind als unsere Mutter betrachten können, dann sind wir bereit, eine Realisation der ersten Stufe der sieben Ursachen und Wirkungen zu erlangen, die zur Entwicklung von Bodhichitta führen.

      ALLE LEBEWESEN ALS UNSERE MÜTTER ERKENNEN

      Nachdem wir eine unvoreingenommene Sicht von allen fühlenden Wesen entwickelt haben, sind wir bereit, sie alle gleichermaßen als unsere ehemaligen Mütter zu sehen. Das ist die stabile Grundlage, auf der der höchst altruistische Geist des Bodhichittas aufbaut. Wie ist es aber möglich, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen? Was sind die Gründe, die zum Glauben führen, daß wir mit allen Wesen ein enges Mutter-Kind-Verhältnis gehabt haben?

      Um diese Fragen zu beantworten, ziehen wir die folgende Argumentation in Betracht. Die Frau, die wir gegenwärtig als unsere Mutter kennen, ist unsere Mutter, weil wir aus ihrem Mutterleib in diese Welt hinein geboren wurden. Das ist aber nicht das erste und nicht das einzige Mal, daß wir geboren wurden. Unser Geisteskontinuum reicht unendlich weit zurück, und unsere Geburten waren zahllos. Da wir zahllose Male geboren wurden, müssen wir folglich zahllose Mütter gehabt haben. Deshalb gibt es kein einziges Wesen, dem wir begegnen, das nicht irgendwann einmal in der unermeßlichen Dimension der anfangslosen Zeit unsere Mutter gewesen wäre. Wenn wir uns von der Logik der oben angeführten Argumentation überzeugen lassen, kann uns trotz der veränderten Form und Erscheinung der Wesen, die wir antreffen, und trotz der Unzulänglichkeit unseres begrenzten Erinnerungsvermögens nichts daran hindern, alle Wesen mit der gleichen Wärme zu betrachten, die wir jetzt mühelos für unsere gegenwärtige Mutter empfinden.

      Obwohl die beschriebene Argumentation in sich logisch ist, ist es offensichtlich, daß sie überhaupt keine Überzeugungskraft besitzt, wenn wir nicht an die Existenz früherer und zukünftiger Leben glauben oder dieses zumindest vorläufig akzeptieren lernen. Solange wir diese Möglichkeit ablehnen - das heißt solange wir glauben, daß die Geburt und der Tod dieses Lebens die äußersten Grenzen unserer Existenz kennzeichnen - wird es ganz und gar unmöglich sein, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen, außer im metaphorischen Sinne. Das volle Verständnis vieler anderer wichtiger Dharma-Themen, wie zum Beispiel die Beziehung von Ursache und Wirkung, hängt davon ab, die Existenz vergangener und zukünftiger Leben in Betracht zu ziehen. Obwohl dieses Thema einigen Menschen ganz besondere Schwierigkeiten bereitet - insbesondere den Menschen im Westen - ist es wichtig, offen dafür zu sein und die Frage mit sowenig Vorurteilen wie möglich zu untersuchen.

      Der Kern des Problems liegt in unserem Verständnis der Natur des Geistes. Denn durch die Erkenntnis, daß unser Geist ein formloses Kontinuum und dieses Kontinuum anfangslos ist, werden wir die Existenz früherer Leben verstehen lernen. Eine Methode, wie man darüber meditieren kann, ist die folgende: Wir können den gegenwärtigen Strom von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen - alle Faktoren, die wir als «geistig» identifizieren - betrachten und zum Geistesstrom der vorherigen Momente, Minuten und Stunden zurückverfolgen. Dann können wir diesen Geistesstrom sogar noch weiter zurück zum gestrigen Tag, zur letzten Woche und zum letzten Jahr verfolgen. Je nach Stärke unseres Gedächtnisses können wir diesem Geistesstrom Jahr für Jahr bis zurück zu unserer Geburt nachgehen. Selbst wenn wir diesen Geistesstrom bis zur Zeit im Mutterleib oder bis zum Moment der Zeugung zurückverfolgen können, können wir nie einen Zeitpunkt finden und sagen: «In diesem Moment ist mein Geist entstanden.»

      Einige Menschen, die diese Meditation des Zurückverfolgens praktizieren, können tatsächlich über den Moment der Zeugung hinausgehen und sich an den Geistesstrom am Ende eines früheren Lebens erinnern. Da aber diese Erfahrung nicht von sehr vielen Menschen geteilt (und oft angezweifelt) wird, können wir diese Erfahrung fairerweise nicht als Beweis für das anfangslose Kontinuum des Geistes verwenden. Daher