Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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die nicht nur sentimentale Reden über die Not der armen Kinder schwang wie die meisten Damen der Gesellschaft. Eine Frau, die etwas tat. Das musste sie hören.

      Sie musste sich vorbereiten auf ihren nächsten Besuch bei Anna Brettschneider. Und mehr als das – da war die Sehnsucht, ein Ziel zu finden. Ihr Ziel, für das es sich zu leben lohnte. Sie hatte so viel wiedergutzumachen. Wozu eigentlich war sie eine Tochter aus reichem Haus, die eines Tages über erhebliche Mittel verfügen würde? Eines Tages, wenn sie es geschickt anstellte und nicht einen Gatten wählte, der ihr Geld nach seinem Gutdünken verwaltete und ihr den Zugriff darauf entzog!

      Gespannt hing sie an den Lippen von Frau Höhl. Eine ganz und gar damenhafte, elegante Erscheinung, eine Frau kaum über dreißig, wie man sie in einem Nobelrestaurant oder in der Theaterloge zu sehen erwartete und nicht in den Elendsquartieren der Arbeiter. Doch genau davon sprach sie: Wie sie kurz nach ihrer Verehelichung die Wohnungen der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgesucht hatte, die in der Fabrik ihres Gatten arbeiteten. Immer und immer wieder meinte Margarethe eine Schilderung der Wohnung zu hören, in der sie Anna Brettschneider angetroffen hatte. Es trieb ihr die Tränen in die Augen.

      »Kleinkinder, die mit Stricken ans Tischbein gefesselt sind, während die Mutter in der Fabrik arbeitet und sie nicht beaufsichtigen kann – vor Hunger und Durst brüllende Säuglinge in Wickelbänder geschnürt, die seit Tagen nicht mehr aufgebunden wurden und schon von Schmutz ganz durchtränkt sind – Zwei-, Dreijährige, die sich allein oder inmitten einer Horde mehr oder weniger Gleichaltriger in der Gosse aufhalten, ohne dass je ein Erwachsener nach ihnen sieht – sechs-, siebenjährige Schulkinder, die am Nachmittag niemand zu den Schularbeiten anhält – Achtjährige, die sechs oder acht Stunden am Tag Botendienste leisten oder als kleine Hausmütterchen neben der Schule schon einen ganzen Haushalt und ihre jüngeren Geschwister versorgen müssen – ach, was habe ich nicht alles angetroffen! Doch wem erzähle ich das, meine sehr verehrten Damen! Sie alle, die sich für die Wohltätigkeit einsetzen, Sie alle kennen solche Beispiele und wissen, dass es keine Ausnahmen sind.«

      Zustimmendes Nicken und Murmeln im Auditorium. Margarethe verschränkte die Hände ineinander, um des Zitterns Herr zu werden, das sich ihrer bemächtigt hatte.

      »Leicht ist es, den Müttern die Schuld zuzuschieben, wenn ein Kind sich lebensgefährlich mit kochendem Wasser verbrüht, weil niemand es vom Herd ferngehalten hat, wenn ein Säugling stirbt, weil es ihm an Pflege und Nahrung gemangelt hat oder weil er unter dem Bettzeug erstickt ist, das die Mutter aus Sorge, er könnte sich losstrampeln und verkühlen, am Bett festgebunden hat. Leicht ist es, zu sagen: Die Mütter sind schuld. Aber Sie, meine Damen, Sie wissen wie ich: Wie soll denn eine Frau, die täglich zehn, elf Stunden in der Fabrik arbeiten muss, weil das Geld des Ehemannes zum Leben der Familie nicht ausreicht, die in der Mittagspause den Weg nach Hause hetzt, um den Kindern rasch eine Mahlzeit aufzuwärmen, und dabei kaum Zeit hat, selbst ein paar Bissen hinunterzuschlingen, wie soll denn eine solche Arbeiterin für ihre Kinder sorgen, wie es notwendig wäre? Und selbst wenn die Männer das nicht verstehen – wir Frauen, wir verstehen es und das Herz dreht sich uns im Leibe um, wenn wir an all die Kinder denken, die täglich sterben und doch leben könnten.«

      »So ist es«, stimmte Margarethes Mutter laut zu. Margarethe nickte stumm und wischte sich die Tränen von den Wangen. So war es, genau so.

      Begierig hörte sie zu, wie Frau Höhl nun schilderte, wie sie zu dem Entschluss gekommen sei, ein Sozialwerk zu stiften, das sich der Kinder aus den Arbeiterfamilien der Fabrik ihres Gatten annehmen sollte, wie sie die Zustimmung und volle Unterstützung ihres Gatten erhalten habe, wie sie das erste Säuglingsheim und die erste Kinderkrippe gegründet habe, in welche die Arbeiterinnen ihre Kinder von morgens bis abends bringen konnten.

      »Was für eine Freude ist es, in dem lichten, luftigen Raum durch die Reihen der Stubenwagen zu gehen, in denen die Säuglinge frisch gebadet, in reiner weißer Wäsche liegen«, schwärmte Frau Höhl. »Denn morgens als Erstes werden die Kinder von den Fetzen entkleidet, in denen sie liegen, werden täglich gebadet und in saubere Wäsche gekleidet. Und natürlich wird bei der Zubereitung der Flaschennahrung auf Milch bester Qualität und auf allerhöchste Hygiene geachtet. Die Statistik gibt uns recht – die Säuglingsdiarrhö ist selten in unserem Heim. Und dann die Krippe: auch hier Ordnung, Licht, Luft, Sauberkeit. Wie die Kleinen hintereinander aufgereiht im Laufställchen stehen, während die Erzieherin ihnen vorliest oder Lieder mit ihnen singt und Fingerspiele mit ihnen macht – allerliebst. Läuse, Flöhe und andere ungebetene Gäste werden mit großem Erfolg bekämpft, die Ernährung ist abwechslungsreich, die Kleinen haben rote Wangen, ein Arzt überwacht ihre Entwicklung. Was für ein Gegensatz zu den hohläugigen, bleichen Kindern der Kellerwohnungen!«

      Das ist es, dachte Margarethe. Wenn ich in diesem Sinne tätig werde, dann ist das Kind von Anna Breitschneider nicht umsonst gestorben, dann kann ich an seiner Stelle unzählige andere retten. Doch wie das erreichen? Ich habe kein eigenes Geld. Und bin nicht die Gattin eines Fabrikanten mit Neigung zur Wohltätigkeit. Was für ein Glück diese Frau Höhl hat, dass ihr Mann sie so uneigennützig unterstützt! Das ist fast ein Wunder.

      Gespannt hörte sie dem Bericht von Frau Höhl zu, wie diese ihr Sozialwerk immer weiter für die Arbeiterfamilien der Fabrik ihres Gatten ausgebaut hatte: der Kindergarten, der Hort für Schulkinder bis zu zehn Jahren, das Wohnheim für alleinstehende Arbeiterinnen, das im Bau befindliche Wohnheim für junge Männer, der fabrikeigene Krämerladen, der bequem alle täglichen Bedürfnisse der Arbeiterfamilien deckte, und schließlich die Pläne für Arbeiterwohnungen: Jede sollte mit Küche, Stube, Kammer und einer kleinen Parzelle Land zur Selbstversorgung ausgestattet werden, das passende Grundstück dazu wurde noch gesucht.

      Was für ein Werk! Etwas anderes als die Almosen, die der Wohltätigkeitsverein ihrer Mutter aufbringen konnte.

      Die Mutter schien dies auch so zu empfinden, sie sah etwas mitgenommen aus, als sie am Ende des Referates mit einer kleinen Rede der Vortragenden für ihre beeindruckenden Ausführungen dankte und ihre Hochachtung sowie persönliche Ergriffenheit zum Ausdruck brachte.

      Die Versammlung löste sich auf, zum zwanglosen Plaudern und Teetrinken wechselten die Damen vom im reinen Renaissancestil möblierten Musiksaal durch das Speisezimmer mit seiner dunklen barocken Pracht in den hellen Salon. Ganz im Stil des Rokoko war er gehalten und brachte durch seine in Rosenmustern bemalten Seidentapeten, die zierlichen Sessel mit den vergoldeten Armlehnen und die Anordnung exquisiter Porzellanfiguren eine betont weibliche Note zum Ausdruck. Wie deplatziert, ja geradezu abstoßend erschien Margarethe auf einmal dieser in jedem Detail der Einrichtung ihres Elternhauses zum Ausdruck kommende Reichtum! Nach einem solchen Vortrag …

      Mit der Teetasse in der Hand suchte Margarethe Frau Höhl. Sie musste mit ihr ins Gespräch kommen. Vielleicht gab es ja die Möglichkeit, sich die sozialen Institutionen von Frau Höhl anzusehen, um eines Tages selbst Ähnliches aufbauen zu können? Sie atmete tief. Ihre Schwäche war wie weggeblasen.

      Wenn sie einen zu solcher Selbstlosigkeit fähigen und bereiten Fabrikanten zum Gatten fände wie Siegfried Höhl …

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