Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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      »Soll ich eine Kutsche …«, begann er erneut.

      »Lassen Sie mich in Ruhe!«, fuhr sie ihn an und eilte davon.

      Sie stieg eine dunkle Kellertreppe hinunter. Ihre Hand tastete die feuchte Wand entlang, Putz bröckelte und rieselte auf die Stiege, eine schmierige Masse klebte an ihren Fingern. Ekelerregender Gestank schlug ihr entgegen, Moder und Fäulnis, Abwasser und Fäkalien, Kohlsuppe und Zwiebeln und über allem ein widerlich süßer Geruch.

      Übelkeit brandete in ihr auf, ihr Mund voll von Erbrochenem, es nahm ihr den Atem.

      Ihr Fuß trat in etwas Weiches, Nachgiebiges, sie rutschte aus, stürzte, fiel und fiel, es nahm gar kein Ende. Ihr Kopf schlug auf den Steinstufen auf, noch mal und noch mal und noch mal. In das Dröhnen der Schläge mischte sich von weit her ein höhnisch gellendes Lachen. In einer Pfütze von Jauche und Dreck blieb sie liegen. Ihr Kopf zersprang. Sie sah die Explosion, sah das Spritzen der Hirnmasse, sah Blut die Wände herablaufen.

      Irgendwo wurde mit schrillem Kreischen eine Tür geöffnet. Ein Wagen ratterte den Gang entlang, kam näher. Jetzt konnte sie ihn sehen: eine Lore. Sie war in einem Bergwerk. Mühsam richtete sie sich auf, sie musste aus der Bahn, sonst würde sie überrollt. Jetzt hatte die Lore sie erreicht. Sie wollte einsteigen, mit unendlicher Kraftanstrengung hievte sie sich in den Wagen, kam auf den Kohlen zu liegen. Es waren keine Kohlen. Es waren die steif gefrorenen Leichen kleiner Kinder und Säuglinge.

       Sie schrie.

      Sie schrie. Saß im Bett, starrte in die Dunkelheit, schrie und schrie.

      Die Leichen, die Kinder, es war ihre Schuld …

      Schweißnass klebten ihr das Hemd am Rücken, die Haare am Kopf. Was war geschehen, dieses Bergwerk, der Leichenwagen, warum lebte sie, ihr Kopf war doch explodiert …

      Ein gleißender Schmerz bohrte in ihrem Schädel. Mit zitternden Händen langte sie hin, erwartete eine klaffende Wunde zu spüren, Knochensplitter, Hirnmasse und Blut, doch da waren nur ihre feuchten Haare.

      Auf einmal begann sie zu frieren. Zitternd kroch sie unter die Decke, zog sie sich bis zum Kinn. Ihre Zähne schlugen aufeinander.

      Die Tür wurde geöffnet, grell fiel das Gaslicht aus dem Flur herein, jemand kam auf sie zu, ließ sich an ihrem Bett nieder. Nicht, sie wollte das nicht, sie wollte … Eine leichte, sehr kühle Hand auf ihrer Stirn, die erschrockene Stimme der Mutter: »Du glühst ja vor Fieber! Ich rufe sofort Doktor Schneider.« Dann Schwärze.

      Sie musste zu ihm. Doch sosehr sie sich auch beeilte, die Distanz zu dem Mann vor ihr wurde nicht geringer. Sie streifte die hohen Stiefeletten von den Füßen, raffte den Rock, barfuß rannte sie hinter ihm her. Er lief noch schneller. Er kam an einen breiten Fluss. Jetzt kann er nicht weiter, dachte sie, jetzt hole ich ihn ein. Der Mann schritt weiter, ohne zu zögern, trat auf das Wasser, ging über den Fluss, ruhig und sicher. Ach, dachte sie, natürlich, warum habe ich das vergessen, man kann ja auf Wasser laufenwie jener Gott aus Nazareth. Sie eilte ihm nach, erreichte das Ufer, trat auf das Wasser. Sie versank. Eiskalt schlugen die Wellen über ihr zusammen. Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, versuchte zu schwimmen, an die Oberfläche zu gelangen, es war unmöglich, sie sank immer weiter, das Wasser war abgrundtief und kalt, so unglaublich kalt. Sie zitterte.

      Kühle, sichere Hände tasteten ihren Hals ab, ihr Gesicht, umfassten ihren Kopf, bogen ihn sacht nach vorn und hinten, forschten mit routiniertem Griff unter ihren Achseln, auf ihrem Bauch.

      Widerwillig öffnete sie die Augen. Grelles Licht stach ihr mitten ins Hirn. Sie blinzelte. Durch Nebel erkannte sie ein schwankendes Gesicht. Der Hausarzt. Konnte er seinen Kopf nicht ruhig halten?

      Er richtete ihren Oberkörper auf, schob ihr einen kalten Gegenstand unter das Nachthemd, forderte sie zum Husten auf und zum tiefen Atmen. Sie tat ihm den Gefallen, damit er sie endlich in Frieden ließ. Damit sie den Mann suchen konnte. Sie musste ihn einholen. Wer war er eigentlich? Sie sank zurück in die Kissen.

      Fetzen eines Gesprächs an ihrem Ohr, die besorgte Stimme der Mutter, die beruhigende des Arztes: »Nein, gnädige Frau, keine Lungentuberkulose, dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis – aber ja, darauf gebe ich Ihnen mein Wort als Arzt – eine akute Infektion – dafür ist es noch zu früh – zu unspezifisch – wird sich erweisen – wenn man wüsste, wo sie sich das zugezogen hat – an einem Ort besonderer Gefährdung? – jederzeit, gnädige Frau, jederzeit – bei jeder Verschlechterung im Befinden, bei Hautausschlag, bei weiterem Anstieg des Fiebers, insbesondere bei Schluckbeschwerden oder Nackensteifigkeit – achten Sie genau darauf – unverzüglich …«

      Dann endlich war wieder Ruhe.

      »Gnädiges Fräulein, Sie haben ja schon wieder nichts gegessen!«, sagte das Zimmermädchen mit vorwurfsvollem Seufzen. »Wenn ich das der gnädigen Frau sage!«

      »Dann sag es ihr eben nicht«, erwiderte Margarethe müde.

      »Ja aber, Sie müssen doch etwas essen, das sagt der Herr Doktor auch immer wieder. Wenn nur meine Großmutter selig noch leben würde, die war eine Brauchfrau, die wusste für alles ein Kraut und ein Mittel …«

      »Emma! Bitte!«, fuhr Margarethe dem Mädchen über den Mund.

      Gekränkt räumte Emma das Essen auf das Tablett, machte einen Knicks und verschwand. Endlich.

      In die Kissen gesunken und in eine Decke gehüllt saß Margarethe reglos im Lehnstuhl auf dem kleinen Balkon ihres Zimmers, die Füße auf einem Hocker hochgelegt, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Seit ein paar Tagen bestand der Hausarzt darauf, dass sie nicht mehr ununterbrochen im Bett lag, sondern einige Stunden am Tag im Lehnstuhl halb sitzend, halb liegend an frischer Luft verbrachte. Es war ihr gleich.

      Der Frühling entfaltete seine Pracht, die Magnolie im Vorgarten der Villa blühte, die Tulpen leuchteten in verschwenderischer Fülle. Sie sah es nicht. Sie starrte auf ihre Hände.

      Sie hätte schneller handeln müssen. Sie hätte sich nicht damit zufriedengeben dürfen, dass die Damen des Wohltätigkeitsvereins keinen Grund gesehen hatten, Anna Brettschneider sofort zu helfen.

      Aber die Mutter mit ihrer Erfahrung in Wohltätigkeit, die Mutter hätte doch begreifen müssen, dass man nicht abwarten konnte!

      Die Mutter war nicht dort gewesen, hatte das ganze Ausmaß des Elends nicht gesehen. Sie schon. Es war ihre Schuld. Ganz allein ihre.

      Sie hatte doch gehört, wie schwach das jammervolle Weinen des Säuglings geklungen hatte. Und vor allem hatte sie die Wohnung gesehen. Und die Abgezehrtheit von Anna Brettschneider. Wenn sie sofort dafür gesorgt hätte, dass ein Arzt gekommen wäre. Und dass die Familie eine menschenwürdige Unterkunft bekam. Und anständige Verpflegung. Könnte dann das Kind jetzt noch leben?

      Vielleicht wäre es sowieso gestorben. Warum nur war dieser Gedanke kein Trost? Wenn sie den Ring sofort versetzt hätte …

      Aber auf diese Lösung war sie nicht gekommen. Da hatte ihr erst ein kleines Mädchen vorführen müssen, was Mitgefühl hieß.

      An der Tür ihres Zimmers klopfte es. Sie antwortete nicht. Sie wollte nicht, dass jemand mit ihr sprach. Über das, was ihr die Brust zerriss, konnte sie ja doch nicht reden, das konnte sie keinem offenbaren.

      Es sei denn, Johann Nietnagel. Der würde es verstehen. Er hatte es ja schon verstanden, dort in der Laube.