Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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eines Arztes. Trafen sie nicht bewundernde Blicke? Und drehten sich nicht sogar feine Herren nach ihr um?

      Nur mit Mühe hielt sie es aus, nicht nach hinten zu schauen, um festzustellen, ob ihr die Augen des einen oder anderen Herrn folgten. Morgen würde sie keinen Tanz auslassen. Jenny hatte mit ihr geübt, hatte ihr die Tanzschritte beigebracht und behauptet, sie sei ein Naturtalent. Die Herren würden sich um sie reißen.

      Doch was sollte sie tun, wenn keiner sie aufforderte?

      Unruhig wurde sie bei dem Gedanken, spürte das ganze Unglück im Vorhinein. Auf dem Stuhl sitzen und warten und warten, und keiner kam. Wie grausam musste das sein.

      Sie musste noch einmal mit Jenny darüber reden. Und sie fragen, ob sie glaubte, dass sie das richtige Kleid zum Tanzen gekauft hatte. Vielleicht wäre ein schwarzes doch besser gewesen?

      Jetzt ging sie, so schnell sie konnte, bis sie endlich zu ihrer Mietskaserne kam. Die zwei Treppen zu Jenny hinauf rannte sie, eilte den langen Flur entlang. Erhitzt kam sie an der Tür an, riss sie gleich nach dem Klopfen auf, stürmte in die Küche.

      »Jenny, ich …« Sie brach ab, stockte. Ein fremder Mann saß bei Jenny am Küchentisch. Etwas Besseres war er, das merkte man gleich, obwohl seine Kleidung ziemlich schäbig aussah. Offensichtlich waren die beiden in eine ernsthafte Diskussion vertieft, Jenny sah sehr aufgebracht aus.

      Nun fuhr die Freundin zu ihr herum. »Clara, du, stell dir vor, sie haben die Arbeiterinnenschule verboten!«, brach es aus ihr heraus. »Der ganze große Frauen- und Mädchenbildungsverein wurde durch Gerichtsurteil geschlossen. Sie gönnen uns nicht mal das bisschen Wissen! Dumm sollen wir bleiben, wie Schafe, die kann man scheren und melken und in den Stall treiben und sogar schlachten, ohne dass sie sich wehren. So hätte die Regierung uns Arbeiterinnen gern!«

      »Aber was, wieso denn«, stammelte Clara. Da hatte sie Jenny ihr neues Kleid vorführen wollen und über das Tanzen reden, und nun!

      »Weil sie Angst haben, dass wir uns in die Politik mischen, und das ist uns Frauen ja bekanntlich verboten«, erwiderte Jenny bitter. »Angeblich hat der Verein politische Ziele verfolgt. Einundzwanzig Genossinnen werden angeklagt, in nicht einmal zwei Wochen soll ihnen schon der Prozess gemacht werden. Sie hätten Frauenspersonen als Mitglieder eines politischen Vereins aufgenommen. Dabei sind wir doch so vorsichtig und passen auf, dass wir nach außen nie was von Politik verlauten lassen, sondern öffentlich immer nur über Lesefähigkeit und Hauswirtschaft und Kinderpflege und so was reden! Aber selbst damit sind wir vor der Polizei nicht sicher. Politik wäre überhaupt alles, was nicht eine einzelne Person, sondern die gesamte Öffentlichkeit angeht, und da haben nach Recht und Gesetz Frauen nun mal nichts verloren. Ich könnte die Wände rauf! Weil ein Arzt auf einer Versammlung für Mütter von der Säuglingssterblichkeit geredet hat und davon, dass sie von der Ernährung kommt, und dass es die Pflicht der Kommune sein sollte, die teure Kindermilch für die Familien zu beschaffen, die sie nicht bezahlen können! Und das soll nur die Männer was angehen und nicht die Frauen?!«

      »So ist es nun einmal in der Klassengesellschaft«, meinte der fremde Mann. Er hatte eine tiefe, warme Stimme, die sehr ruhig, beinahe begütigend neben der aufgebrachten Stimme von Jenny wirkte. Der Klang dieser Stimme gefiel Clara so gut, dass es ihr ganz gleich war, was er sagte. Wenn er nur weitersprach.

      »Die Herrschenden fürchten um ihre Macht. Mit Zähnen und Klauen verteidigen sie die alten Vorrechte. Die Vorrechte des Adels, des Militärs, des Grundbesitzes, des Kapitals, der Bildung. Und natürlich die Vorrechte des Mannes. Aber entschuldigen Sie, Fräulein Clara, wir sind noch gar nicht miteinander bekannt.«

      Er erhob sich, verneigte sich leicht und streckte ihr die Hand entgegen. »Johann Nietnagel. Ich wohne hier im Haus. Hin und wieder verfasse ich einen Artikel für den Vorwärts oder sonst eine Zeitung, die bereit ist, meine Zeilen zu veröffentlichen. Deswegen beraten Jenny und ich gerade, wie man vorgehen könnte und was zu diesen unerhörten Vorgängen zu schreiben wäre.«

      Johann Nietnagel.

      Sie hielt seine Hand in der ihren und ließ sie gar nicht mehr los, bis er sie schließlich mit einem kleinen Lächeln zurückzog. Unwillkürlich sagte sie leise und andächtig: »Ein Träumer, ein verlorner Sohn.« Jäh stieg ihr die Hitze ins Gesicht.

      Er sah sie überrascht an. »Sie kennen mein Gedicht?«

      Sie nickte. »Ich hab es auswendig gelernt«, erwiderte sie und fügte rasch hinzu: »Ich arbeite in der Druckerei, und manchmal, da lesen wir die Fehldrucke und …« Ihre Stimme versandete. Was interessierte ihr einfältiges Gerede einen Dichter! Bestimmt fand er sie langweilig und lächerlich.

      »Setzen Sie sich doch zu uns«, bat er und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Aber wenn ich störe – Sie wollten schließlich Jenny sprechen –, dann verabschiede ich mich.« Fragend sah er sie an.

      Sie schüttelte den Kopf. Er und stören! Doch eine passende Antwort fiel ihr nicht ein. »Ich wollte Jenny nur noch mal wegen morgen fragen, weil wir ja zum Tanzen in den Arbeiterverein gehen wollen«, murmelte sie.

      »Ach«, seufzte Jenny, »ich weiß gar nicht, ob mir nach alldem morgen nach einem Tanzvergnügen ist! Ich glaub, wir gehen da nicht hin.«

      »Aber«, flüsterte Clara. Mehr brachte sie nicht heraus. »Aber …«

      Ihr allererstes Tanzvergnügen, ihr neues Kleid, die ganze Vorfreude – und nun! Verzweifelt bemühte sie sich, nicht zu weinen.

      »Warum nicht?«, fragte Johann Nietnagel. »Du wirst viele Gleichgesinnte dort treffen, Jenny, die neuesten Nachrichten und Gerüchte hören, was gibt es Besseres für die Agitation? Bei einem Tanzvergnügen wittert die Polizei nicht gleich politische Umtriebe, während man sich im Walzer dreht oder am Biertisch sitzt, kann man so manches besprechen, unbehelligt von den Spitzeln des Klassenstaates. Und was das Tanzen betrifft – den Triumph sollten wir der Polizei und der Justiz nicht gönnen, dass sie uns Genossen die ganze Lebensfreude rauben können! Ich jedenfalls hätte nicht schlecht Lust auf eine kleine Abwechslung. Haben Sie denn schon einen Herrn für morgen Abend, Fräulein Clara?«

      Sie wagte nicht, ihn anzuschauen, blickte auf ihre Hände, die sie im Schoß verkrampft hielt. Sah er, wie rau sie waren? Stumm schüttelte sie den Kopf.

      »Dann bitte ich sehr um die Ehre, morgen Abend ihr Tanzherr sein zu dürfen«, sagte Johann Nietnagel.

      »Hat Ihnen Jenny denn erzählt, dass sie es war, die mich zum Sozialdemokraten gemacht hat?«, fragte Herr Nietnagel und legte Clara kurz die Hand auf die Rechte. Schade, dass er sie nicht liegen ließ.

      Clara schüttelte den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an. Wie im Traum fühlte sie sich, den ganzen Abend schon: der große, mit Lampions, Papiergirlanden und Frühlingsblumen geschmückte Wirtshaussaal, die vielen festlich gekleideten Männer, Frauen und Mädchen, die Musikkapelle, das Tanzen, der leichte, wohlige Nebel, den der ungewohnte Genuss von Bier in ihrem Kopf erzeugte – und vor allem er, Johann Nietnagel.

      Keinen Tanz hatte er bisher ausgelassen. Die zweite Runde hatte er mit Jenny getanzt, aber sonst jeden einzelnen Tanz mit ihr. Es ging ganz leicht, sie musste nicht darüber nachdenken, welche Schritte und Drehungen sie zu machen hatte, sie musste sich einfach nur ihm überlassen.

      Würde doch dieser Abend niemals enden!

      Wie nah man einander beim Tanzen kam: sein Arm um ihre Taille gelegt, ihre Hand in der seinen, und die Gesichter so dicht beieinander, dass sie die feinen grünen Sprengsel in seinen bräunlichen Augen sehen konnte oder seinen Atem an ihrem Hals spüren.

      Erst war sie enttäuscht gewesen, als die Kapelle eine längere Pause angekündigt hatte. Doch nun fand sie es gut, mit Jenny und Heinrich am Tisch zu sitzen und natürlich mit ihm, Johann. Heimlich, ganz für sich, nannte sie ihn bereits so.

      Jenny lachte. »Ja, das ist eine Geschichte! Dann erzähl doch mal, Johann! Ich würde gern hören, wie sich das aus dem Mund des nationalliberalen feinen Herrn anhört, der du damals warst.«

      »Ich war nie nationalliberal!«, protestierte Johann.