Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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war, ihr unmittelbarer Nachbar, ein berüchtigter Trunkenbold.

      Jette, seine Frau, hatte noch am Abend heulend bei ihnen in der Küche gesessen und geklagt: Er kommt schon wieder nicht heim! Ich kann ja nicht jeden Samstag vor dem Fabriktor stehen und ihm mein Haushaltsgeld abverlangen, ich hab ja nicht weggekonnt, die Arbeit wächst mir so schon über den Kopf, und außerdem fühlt er sich blamiert, wenn ich das mache, und letztes Mal hat er mich deswegen so zusammengeschlagen, als er heimgekommen ist, dass es wochenlang bei jedem Atemzug wehgetan hat und ich nicht mehr wusste, wie ich Luft holen sollte. Und jetzt sitzt er wieder in irgendeiner Destille und versäuft alles und kommt ohne einen Pfennig nach Hause. Und ich habe doch schon so viele Schulden beim Krämer, der schreibt mir nichts mehr an.

      Vielleicht sitzt er ja beim Unterirdischen Paule, hatte die Mutter gemeint, da können wir ihn rausholen.

      Aber Jette hatte heulend erklärt, nein, da sei er nicht, sie habe die Kinder schon nachschauen lassen. Ihr Jammern hatte in dem Satz gegipfelt: Wenn er sich doch wenigstens tot saufen würde, dann wäre ich ihn los.

      Nebenan wurde es laut. Jette begann in den höchsten Tönen zu schreien und anzuklagen, Bruchstücke hörte Clara von bitteren Vorwürfen, dazwischen lallende Antworten von Willy, plötzlich ein wütendes Brüllen und ein paar schallende Ohrfeigen. Dann war Ruhe. Kurz darauf setzte ein grunzendes Schnarchen ein. Clara vergrub ihren Kopf im Kissen. Jette tat ihr leid. Und trotzdem: Warum konnte die ihren Mund nie halten, sie wusste doch, wie Willy im Suff war. Nüchtern war er ein ganz erträglicher Mensch.

      Was für ein Glück, dass sich ihr eigener Vater selten so sinnlos betrank. Seit sie in Berlin wohnten, trug zwar auch er viel Geld in die Kneipe, aber wenigstens lieferte er jede Woche von den rund sechzehn, siebzehn Mark, die er verdiente, zehn für Haushalt und Miete bei der Mutter ab. Geschlagen hatte er die Mutter auch noch nie, sie konnte sich nicht erinnern, dergleichen je miterlebt zu haben. Und dass er sie selbst und ihre Geschwister für jedes kleinste Vergehen zu verprügeln pflegte, das war etwas anderes. Das taten Väter nun mal.

      Doch, im Großen und Ganzen hatten sie es gut. Und auch wenn es mit dem Geld knapp war, mit dem zusammen, was sie und die Mutter verdienten, reichte es gerade und so hatten sie es nicht nötig, Betten an Schlafgänger zu vermieten: Sie konnten ihre Stube für sich allein behalten, in der die Eltern und die Brüder schliefen. Jette hatte ihre Stube ganz an Schlafgänger abgeben müssen, in drei Betten schliefen dort sechs junge Männer, für die Jette auch kochte und wusch und flickte, sonst reichte es nicht mit dem Geld. Wie die das alles überhaupt aushielt, zwei Kinder und die Schlafgänger und die Heimarbeit als Stepperin an der Nähmaschine und dann noch Prügel von ihrem Mann, das war unbegreiflich.

      Woran erkannte man wohl rechtzeitig, ob ein Mann zur Gewalttätigkeit und zum Suff neigte? Jette hatte erzählt, früher, als sie sich in ihn verliebt hatte, sei ihr Willy ganz anders gewesen, eine Seele von einem Mann. Richtig glücklich sei sie mit Willy gewesen. Nur der Schnaps habe ihn so kaputtgemacht.

      Lisa, die die ganze Aufregung verschlafen hatte, seufzte leise im Schlaf, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich an sie. Clara lächelte und schlang den Arm um die Schwester. Lisas Haare kitzelten ihr in der Nase. Dennoch blieb sie so liegen. Es war schön, diese Nähe zu spüren. Wie es wohl wäre, eines Tages mit einem Mann im Bett zu liegen, einem Mann, der anders war als Willy? Auch anders als Franz. Der ging inzwischen fest mit Olga, die erzählte jeden Montag davon, was sie am Samstagabend und am Sonntag mit ihm erlebt hatte, und ließ nichts dabei aus, auch nicht, wo sie für ihn die Beine breit gemacht hatte und wie fest er hinlangte und wie oft er konnte und dass sie ganz wund sei. Wie anzüglich sie dabei lachte!

      War die Liebe wirklich so – so roh und dreckig? Und ganz ohne Herz …

      Nein, nicht an Franz und Olga denken! Auch nicht an Jette und Willy, nicht an die Hefte und die Polizei! Einfach an nichts. Sie döste wieder ein.

      Irgendwann wurde sie ein zweites Mal von Geräuschen geweckt. Sie blinzelte. Die Mutter stand beim trüben Schein eines spärlich flackernden Talglichtes am Herd und hantierte. »Schon Zeit?«, murmelte Clara.

      »Nein, schlaf weiter«, gab die Mutter halblaut zurück. »Ich mach nur einen Tee für den Vater, zum Glück ist das Wasser noch einigermaßen warm. Er hustet schon wieder wie ein Verrückter. Und Fieber hat er auch, unser Bett ist ganz nass geschwitzt. Wenn er nur am Montag wieder zu Arbeit kann!« Die Mutter seufzte sorgenvoll.

      Schon wieder krank? Auch Clara seufzte. Der Vater war oft krank. Drei Wochen hatte er diesen Winter schon die Grippe gehabt und das Bett hüten müssen. Und in der ersten Woche gab es doch kein Krankengeld, und ab der zweiten dann auch nur die Hälfte vom Lohn – und sein Bier trank er ja trotzdem. An den Schulden, die sie in der Zeit gemacht hatten, zahlten sie immer noch ab. Wenn nun der Vater schon wieder nichts verdiente!

      Am Ende kam die Mutter noch auf die Idee, sich Claras Erspartes aushändigen zu lassen?

      »Was ist?«, fragte Lisa schlaftrunken und wollte sich aufrichten. Clara drückte die Schwester in die Kissen zurück. »Nichts. Schlaf weiter!« Aber sie selbst konnte nicht wieder einschlafen, auch als die Mutter längst gegangen war. Da lag sie nun am einzigen Tag in der Woche, an dem sie hätte ausschlafen können, wach und wartete darauf, dass es endlich Zeit würde aufzustehen.

      Bald kam der Frühling. Im Winter musste sie den Weg im Dunkeln zurücklegen, sodass man meinte, es sei noch tiefste Nacht. Jetzt graute schon der Morgen.

      Clara hastete. Die kalte Luft biss ihr in der Brust. Sie war viel zu spät von zu Hause weggekommen, die Mutter, ermüdet von einer durch das Husten und die Fieberträume des Vaters gestörten Nacht, hatte verschlafen und einen eigenen Wecker besaß Clara nicht. Nun lief sie gegen die Zeit an, beinahe rannte sie und wusste doch, dass es fast unmöglich war, noch rechtzeitig vor Torschluss die Fabrik zu erreichen. Hätte sie doch Geld, fünf Pfennige, damit sie die Straßenbahn nehmen könnte! Aber sie hatte nicht einen einzigen Pfennig einstecken. Ihr blieb nichts, als zu rennen, so schnell sie konnte. Wenn sie auch nur eine Minute zu spät kam, musste sie am Klingelzug läuten, um noch eingelassen zu werden, und dreißig Pfennige Lohnabzug wären ihr sicher.

      Es wäre die Katastrophe – nun, da der Vater doch wieder krank war und im Bett bleiben musste. Bestimmt würde es Wochen dauern, bis er wieder auf die Beine kam. Wenn der Vater erst einmal krank war, erholte er sich schwer mit seiner angegriffenen Lunge.

      Sie würden wieder Schulden beim Krämer machen müssen und die Mutter würde ihr die eine Mark für sich nicht lassen und ein Kleid rückte in weite Ferne. Sie wünschte sich doch so sehr ein neues Kleid, ein richtiges Sommerkleid, eines, mit dem sie zum Tanzen gehen konnte! Wenn sie schon nicht zum Tanzen in eine Wirtschaft durfte, so könnte Jenny sie doch wenigstens zum Tanzabend im Arbeiterverein mitnehmen. Und dagegen konnte doch nicht einmal der Vater etwas haben?

      Aber ohne Kleid ging das nicht…

      Sie rannte. Von der Garnisonskirche schlug es sechs. Alle Hetze und Anstrengung vergebens. Nach Luft ringend blieb Clara stehen und drückte sich die Hand in den vor Seitenstechen schmerzenden Leib. Jetzt war schon alles gleich – ob sie acht Minuten zu spät kam oder zehn, das machte keinen Unterschied mehr. Bis zu fünfzehn Minuten Verspätung war die gleiche Strafe angesetzt. Sie taumelte erschöpft gegen eine Hauswand, schloss kurz die Augen.

      Langsam beruhigte sich ihr Atem, ließ das Stechen in ihrer Seite nach. Weiter. Sie öffnete die Augen. Da fiel ihr Blick auf den Zettel, der an der Toreinfahrt angebracht war: Druckerei Bruchmüller. Wir stellen ein Mädchen/eine Frau als Auflegerin ein. Arbeitszeit 10 Stunden täglich. Wochenlohn 9,50 Mark. Einstellung sofort.

      Neun Mark fünfzig. Eine Mark und fünfzig mehr als sie zuletzt in der Spinnerei bekommen hatte, bevor die Kurzarbeit anfing. Und das für eine Stunde weniger Arbeitszeit! Dass die Drucker gut verdienten, wusste sie, in ihrem Haus wohnte einer, der konnte sich mehr leisten als jeder andere Arbeiter. Aber auch die Frauen! Was war eigentlich eine Auflegerin?

      Neun Mark fünfzig. Letzte Woche hatte sie durch die Kurzarbeit mit den Abzügen und Strafgeldern mal gerade vier Mark sechsundvierzig verdient. Und diese Woche begann gleich