Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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mieten können – und nahm nur am Rande wahr, was da auf der Bühne gespielt wurde. Immer wieder verloren ihre Gedanken den Zusammenhang mit dem Theaterstück, das sie ohnehin nicht berührte. Diese Nora erschien ihr als flatterhafte oberflächliche Person, deren Belanglosigkeit ihr nachgerade auf die Nerven ging. Was sollte sie tun, wenn der Hauptmann nach der Vorstellung noch eine Aussprache mit ihr anstrebte?

      »Was für eine entzückende, liebreizende Frau, diese Nora«, nahm der Hauptmann in der Pause nach dem ersten Akt pflichtschuldig das Gespräch über das Stück auf, »ein wahrer Sonnenschein.« Dann beeilte er sich hinzuzufügen: »Ich meine natürlich die Rolle, nicht die Schauspielerin. Aber diese Nora: So eine kleine Lerche, wie Helmer sie nennt, ein lockerer Zeisig, so ein kindlich schutzbedürftiges und zugleich kapriziöses, verschwenderisches Wesen – einfach hinreißend. Kein Wunder, dass Torvald Helmer sie anbetet.«

      Ist es das, was er in seiner künftigen Frau sucht, dachte Margarethe, ein kindlich schutzbedürftiges, kapriziöses Wesen? Eine trällernde Lerche, einen entzückenden Sonnenschein? Ich könnte ihm den vorgaukeln, zweifellos. Aber – will ich das?

      »Anbetet?«, warf Frau Doktor Schneider ein. »Gewiss, das auch. Aber zugleich stellt er sich doch sehr über sie. Im Übrigen hat Nora durchaus noch einen tieferen Wesenszug. Diese angedeutete Geschichte, wie sie ihrem Mann einst das Leben rettete, ohne dass er es überhaupt merkte – ich meine, das offenbart eine ganz andere Nora. Und von wegen verschwenderisch – das macht sie doch nur ihrem Gatten vor! In Wahrheit vollbringt sie im Stillen ein Wunder an Selbstbeschränkung. Wie schwer muss es für sie sein, unbemerkt das Geld zusammenzusparen, sogar heimlich Schreibarbeiten zu übernehmen, um die Schulden abzutragen, die sie nur aus Liebe zu ihm gemacht hat! Tragisch, dass sie ihm davon nichts sagt.«

      »Tragisch? Ganz und gar nicht!«, widersprach der Hauptmann so engagiert, als wolle er unter Beweis stellen, dass auch er sich für literarische Fragen zu interessieren vermochte. »Sie hat eben ein feines Empfinden. Welcher Mann könnte es ertragen, von seiner Frau gerettet worden zu sein? Im Gegenteil, ich finde diesen frommen Betrug sehr klug von ihr: Sie weiß, wie sie sich die Liebe ihres Mannes erhält und wie sie ihn an sich fesselt. Das ist eben die Klugheit der Frauen. Was meinen Sie, Baronesse?«

      Ein Aufruhr war in Margarethe, den sie kaum zu beherrschen wusste. Sie hatte das Gefühl, mit dieser Antwort über ihr ganzes Leben zu entscheiden. »Ich bin gespannt auf den Fortgang der Handlung«, erwiderte sie ausweichend. Sie lächelte ihm zu und wusste, dass Dutzende Operngläser dieses Lächeln vergrößerten, Dutzende Damen der Gesellschaft es registrierten. Morgen würde man sich erzählen, zwischen Baronesse von Zug und Hauptmann von Klaasen scheine sich nun endlich eine Entscheidung anzubahnen. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, sich mit ihm dieser Öffentlichkeit auszusetzen?

      Mit gespielter Aufmerksamkeit wandte sie sich der Bühne zu. Doch dann begann die Dramatik des Stückes sie wider Willen in Bann zu ziehen und die eigenen Gedanken in den Hintergrund zu drängen. Im dritten Akt schließlich folgte sie der Handlung mit atemloser Spannung. Mehr und mehr spürte sie, dass dort auf der Bühne ihre Zukunft verhandelt wurde. Wie Nora die Augen aufgingen über den wahren Charakter ihres Mannes – über den wahren Charakter ihrer Ehe – vor allem aber über sich selbst und das Scheinleben, das sie bisher geführt hatte …

      Diese Sätze im Dialog zwischen Nora und ihrem Mann:

      Sie: Unser Heim ist nichts anderes als eine Spielstube gewesen. Hier bin ich deine Puppenfrau gewesen, wie ich zu Hause Papas Puppenkind war – Ich muss danach trachten, mich selbst zu erziehen. Und darum verlasse ich dich jetzt …

      Er: So entziehst du dich deinen heiligsten Pflichten? – Pflichten gegen deinen Mann und deine Kinder …

      Sie: Ich habe andere Pflichten, die ebenso heilig sind – die Pflichten gegen mich selbst – Ich liebe dich nicht mehr – das ist der Grund, warum ich nicht länger hier bleiben will …

      Er: Werde ich dir niemals wieder mehr als ein Fremder sein können?

      Sie: Dann müsste mit uns beiden, mit dir und mir, eine solche Wandlung vorgehen, dass … Ach, Torvald, ich glaube an keine Wunder mehr …

      Er: Sprich zu Ende. Eine solche Wandlung, dass …?

      Sie: dass unser Zusammenleben eine Ehe werden könnte. Leb wohl!

      »Das würde ich nie übers Herz bringen«, sagte Frau Doktor Schneider mit Tränen in den Augen, als der Vorhang fiel, »meine Kinder zu verlassen. Das brächte doch keine Mutter über sich!«

      Hauptmann von Klaasen nickte und stimmte zu: »Dieses Ende ist unerträglich! Im Programm steht, dass an manchen Schauspielhäusern Nora mit einem anderen Schluss gegeben wird. Es ist ein Skandal, dass man sich bei dieser Inszenierung nicht auch dazu entschlossen hat. Nicht wahr, Baronesse?«

      »Nein«, widersprach sie und räusperte sich, kaum fand sie ihre Stimme, »genau so muss es sein.«

      3

      Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Sofort schnellte ihr Puls in die Höhe. Clara lauschte.

      Lisas Atem ging ruhig und gleichmäßig. In dem schmalen Küchenbett dicht an sie geschmiegt lag die Schwester in tiefem Schlaf, ungetrübt von Angst und Schuldgefühl. Sie selbst aber

      Da war es wieder. Schwere Schritte im Treppenhaus. Stürmte dort etwa die Polizei die Treppe herauf, würde gleich die Küchentür aufreißen und brüllen: »Alle an die Wand!«, und dann mit der Durchsuchung beginnen, das Unterste zuoberst kehren?

      Wenn sie darauf kamen, die Dielen zu überprüfen!

      Als gutes Versteck war es ihr erschienen, die Hefte unter dem losen Bodenbrett zu verstecken. Schließlich stand ihr Bett darüber, und kein Mensch konnte merken, dass das Brett sich herausnehmen ließ, oder? Sie hatte es selbst ja erst kurz vor Weihnachten entdeckt, als sie für die Festtage den Küchenboden hatte scheuern müssen, wie es daheim im Dorf Brauch gewesen war. Und sie hatte ein mit Ruß beschmiertes vielfach gefaltetes Papierstückchen in den Spalt neben der losen Diele geklemmt, sodass sie nicht mehr wackelte, und dieses winzige schwarze Schnipsel war doch beim besten Willen nicht von dem Dreck zu unterscheiden, der allenthalben in den Spalten zwischen den Dielen klebte!

      Aber wenn die Polizisten das Bett zur Seite schoben und mit dem Messer in jeden Spalt fuhren und jedes Brett darauf prüften, ob es auch fest saß? Bei Gerda hatten sie sogar den Schuhputzkasten ausgeleert und die Puppenstube der kleinen Töchter auseinandergenommen, hatte Jenny erzählt.

      Das Poltern kam näher. Genau auf ihre Tür zu.

      Clara grub die Fingernägel in die Handballen, dass es schmerzte. Hätte sie sich nur nie darauf eingelassen, diese verfluchten Hefte zu verstecken! Was für Vorwürfe würde sie von den Eltern bekommen! Und recht hätten sie, niemals hätte sie die ganze Familie in so eine Gefahr bringen dürfen, vielleicht hatte jemand Gerda gesehen, als sie in der Nacht in Jennys Wohnung gekommen war, und beobachtet, dass sie, Clara, kurz darauf diese Wohnung verlassen hatte, und da lag doch der Schluss nahe …

      Sie würden alle im Gefängnis enden.

      Die Schritte stockten vor ihrer Tür. Clara hielt den Atem an. Dann wurde die Tür aufgerissen. Im schwachen Schein des in die Küche fallenden Mondlichts erkannte Clara undeutlich eine massige Gestalt, die in den Raum torkelte, gegen den Stuhl stieß und ein unflätiges Fluchen hören ließ.

      Das konnte nicht die Polizei sein. Clara stieß die Luft aus. Ihr wurde schwach vor Erleichterung: Gerettet! Es war nur irgendein besoffener Nachbar in seinem Samstagabendrausch. Und es konnte zwar unangenehm werden, so einen Kerl wieder hinauszubugsieren, aber gegen die Polizei war das nichts.

      Eben wollte sie aus dem Bett springen, um den Betrunkenen aus der Küche zu schieben, da schien dieser seinen Irrtum zu bemerken: Er drehte um, hielt sich einen Augenblick am Türrahmen fest und schwankte hinaus. Überraschend