Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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anderen Fälle, die einzelne Damen vorgetragen und zur gefälligen Unterstützung vorgeschlagen hatten, hörten sich sehr bedrückend an oder gingen zu Herzen, insbesondere der Fall von Kinderlähmung, die gleich drei Kinder einer armen Arbeiterfamilie zu Krüppeln gemacht hatte und so die Mutter zwang, ihre Fabrikarbeit aufzugeben, um die hilflosen Geschöpfe zu versorgen. Aber es durfte doch nicht sein, dass Anna Brettschneider deswegen leer ausging!

      »Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, liebe Margarethe«, meinte Frau General von Klaasen begütigend. »Wir werden den Fall Anna Brettschneider wohlwollend vormerken. Es ist durchaus denkbar, dass wir sie bei der nächsten Verteilung von Mitteln berücksichtigen können.«

      »Anna Brettschneider braucht die Nähmaschine aber nicht irgendwann später, sie braucht sie jetzt«, machte Margarethe einen letzten verzweifelten Versuch, ihrem Schützling zu helfen. »Wenn Sie gesehen hätten …«

      »Bitte verschonen Sie uns mit weiteren Einzelheiten, Baronesse«, wurde sie von Frau Geheimrat von Hörrach unterbrochen. »Wir können uns solche Verhältnisse durchaus vorstellen – im Gegensatz zu Ihnen waren wir schon in mehr als einer Arbeiterwohnung. Aber zunächst einmal muss wieder Geld in unsere Vereinskasse kommen, ehe wir es ausgeben können.«

      »Ich bin ganz Ihrer Meinung, verehrte Frau General, verehrte Frau Geheimrat«, stimmte die Mutter zu. »Entschuldigen Sie das jugendliche Ungestüm meiner Tochter.« Ein kurzer, sehr kühler Blick streifte Margarethe, dann wandte sich die Mutter wieder an das Gremium. »Also, meine Damen, lassen Sie uns überlegen, wie wir unser diesjähriges Wohltätigkeitsfest zu einem besonderen Erfolg machen können!«

      Sofort entspann sich eine rege Diskussion mit Sammlung von Vorschlägen, die von einem Bazar mit selbstgefertigten Handarbeiten und kunstgewerblichen Gegenständen über eine Tombola bis hin zu musikalischen Darbietungen der verschiedensten Arten reichten. Margarethe saß schweigend da und versuchte sich zu fassen. Sie war so sicher gewesen, mit ihrer Schilderung Anna Brettschneider zu ihrer Nähmaschine zu verhelfen. Wie stand sie nun da? Sie hatte schließlich ihr Wort gegeben!

      Aber nicht einmal Frau General von Klaasen hatte verstanden, wie wichtig es war, in diesem Fall sofort zu helfen.

      Mühsam zwang sie ihre Gedanken zurück zur Diskussion. Die verwitwete Frau Ministerialrat von Aubach führte soeben aus, dass sie mit ihrer Tochter bereits zwölf Wandteller mit Szenen aus Preußens Geschichte – angefangen vom Großen Kurfürsten – bemalt habe und einen Zyklus von vierundzwanzig Szenen bis hin zur Kaiserkrönung in Versailles herzustellen plane. Sie verspreche sich einen guten Erlös im Bazar davon. Die Damen nickten wohlwollend und murmelten Zustimmung. Die kunstgewerblichen Fähigkeiten der Frau Ministerialrat waren bekannt – und ebenso die dezent vertuschte Tatsache, dass ihre finanziellen Mittel beschränkt waren, weshalb sie Geldleistungen durch persönlichen Einsatz für den Wohltätigkeitsverein zu ersetzen trachtete.

      »Meine Verehrten«, erklärte Frau von Klaasen dann in einem Ton, der ihr sofort die allgemeine Aufmerksamkeit sicherte, »so weit so schön und gut. Dergleichen Aktivitäten bieten wir bei unseren Wohltätigkeitsfesten jedes Jahr mit Regelmäßigkeit! Und mit der gleichen Regelmäßigkeit werden die Einnahmen aus diesen Festen von Jahr zu Jahr niedriger. Und warum? Weil unsere Ideen so wenig originell sind, dass sie niemanden mehr anlocken. Wir können uns unsere Handarbeiten ja nicht nur gegenseitig abkaufen! Nein, wir müssen einmal etwas Neues bieten, etwas, was noch nicht da war.«

      »Und was? – Sie haben doch gewiss schon eine Idee? – Spannen Sie uns nicht auf die Folter!«, sprachen die Damen durcheinander.

      »Nun ja«, Frau General lächelte zufrieden, »ich habe da tatsächlich eine Idee. Unserer lieben Margarethe habe ich einen besonderen Platz dabei zugedacht.«

      Margarethe beugte sich vor. Etwas für Anna Brettschneider tun zu können, etwas tun zu können, um diesen Aufruhr in sich zur Ruhe zu bringen!

      »Ich dachte an ein lebendes Bild«, verkündete die Generalin.

      Ein lebendes Bild? Enttäuscht ließ sich Margarethe in ihren Sessel zurücksinken. Auch die anderen Damen gaben sich zurückhaltend.

      »Ich weiß, das klingt zunächst nicht weltbewegend«, meinte die Generalin gelassen. »Aber ich will es erklären. Ich dachte nämlich an ein ganz besonderes Bild, eines, das unserer preußischen Geschichte sehr nahesteht und zugleich auch zu Herzen geht, die Fantasie beflügelt, kurz, alle patriotischen und menschlichen Gefühle auf das Edelste berührt. Und ich dachte daran, dieses Bild eine gewisse Zeit lang zur allgemeinen Bewunderung stehen zu lassen, dann aber die Figuren zum Leben zu erwecken und in Aktion treten zu lassen. Kurz, das Ganze in ein kleines Schauspiel münden zu lassen. Natürlich müsste dazu der Text eigens verfasst werden. Das von mir anvisierte Sujet eignet sich hervorragend, einen Appell an Edelmut und Hilfsbereitschaft unterzubringen. Natürlich sollte das Ganze in Reimen verfasst sein.«

      »Ich kenne einen jungen Dichter, dem ich gerne einen Auftrag zukommen lassen würde«, warf die Mutter ein. »Ein gewisser Johann Nietnagel, den ich am nächsten Donnerstag in unserem Salon einführen werde.«

      »Johann Nietnagel?«, wiederholte die Generalin. »Noch nie gehört. Aber ich verlasse mich ganz auf Sie, Verehrteste. Jede von uns weiß, wie sicher Ihr Gespür für die wahre Kunst ist und wie gut Sie sich in Künstlerkreisen auskennen. Wenn Sie Herrn Nietnagel für einen begabten jungen Mann halten, so gilt mir das als Beweis seines Könnens. Folglich wird er wohl dazu in der Lage sein, ein kleines Theaterstück zu reimen, das«, sie machte eine kunstvolle Pause und blickte Aufmerksamkeit fordernd in die Runde, »das Tilsiter Treffen unserer hochverehrten Königin Luise mit Kaiser Napoleon zum Thema hat.«

      »Das ist ja geradezu genial!«, rief die Frau Geheimrat. »Die vielgeliebte Königin der Herzen, die Mutter des ersten deutschen Kaisers, in einer der schwersten Schicksalsstunden Preußens! Die Personifikation des edlen Mutes einer erhabenen Frau durch Darsteller zum Leben erweckt – natürlich müssen die Kulissen und die Kleidung ganz und gar getreu ausgeführt sein –, das wird Interesse erwecken. Und wenn Königin Luise und Napoleon dann plötzlich zu sprechen beginnen, zu agieren, einfach hinreißend!«

      Frau Ministerialrat von Aubach warf ein: »Ich könnte das Bühnenbild malen. Nicht allein natürlich, aber meine Tochter Julia könnte mich dabei unterstützen. Sie ist in vielen Dingen sehr geschickt – und ich würde sie gerne hier im Kreis einführen, wenn es den Damen recht ist.«

      »Wie schön«, stimmten die Mutter und die Generalin von Klaasen wie aus einem Mund zu. Frau Kommerzienrat Stolze aber, die neureiche Fabrikantengattin, die in diesem erlauchten Kreis selten den Mund zu öffnen wagte, vergaß ihre Scheu vor all den hochgeborenen Damen und rief aus: »Baronesse von Zug, dann müssen Sie unbedingt die preußische Königin darstellen! Sie haben eine gewisse Typähnlichkeit mit ihr, wenn ich das so sagen darf, die Haarfarbe, die hohe, schlanke Gestalt, den Liebreiz. Und dieses unverkennbar Edle.«

      »Sie sprechen mir aus dem Mund«, bestätigte die Generalin leicht süffisant. »Sie werden sich erinnern, dass ich von Anfang an sagte, mein Plan habe mit der Baronesse zu tun.«

      Frau Stolze wurde sichtbar kleiner.

      »Werden Sie es tun, meine Liebe?«, wandte sich die Generalin an Margarethe.

      Diese lächelte zustimmend. »Warum nicht!« So ein paar Reime aufzusagen, sollte wohl möglich sein, und sich in königliche Pose zu stellen und betrachten zu lassen, erst recht. Sie wusste um ihre Wirkung – und sie musste zugeben, dass sie geheimen Gefallen daran fand, bewundert zu werden. »Wenn Sie meinen, dass wir dadurch die Spendenfreudigkeit des Publikums anregen können?«

      »Aber mit Sicherheit«, erwiderte ihre Mutter. Die Begeisterung hatte ihre Kühle vertrieben. »Ich stelle mir vor, dass du dann als Königin Luise an der Hand Napoleons mit einem Körbchen durch die Reihen gehst und jeden Herrn persönlich ansprichst. Den Herrn möchte ich sehen, der für die hochverehrte, geliebte preußische Königin nicht anständig seine Geldtasche zückt! Es ist also beschlossene Sache?«

      Ringsum wurde eifrig genickt.

      »Fragt sich nur: Wer gibt den Napoleon?«, fragte Frau Geheimrat von Hörrach. »Die Herren sind im Allgemeinen