Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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zufrieden, »das lassen Sie meine Sorge sein! Ich denke, es ist klar, wer am besten für diese Rolle in Frage kommt: mein älterer Sohn.« Und dann fügte sie mit einem Anflug von Ironie hinzu: »Er hat die richtige Statur.«

      Das ist es also, dachte Margarethe. Dazu hat sie das alles eingefädelt. Damit wir uns bei den Proben näherkommen, Hauptmann von Klaasen und ich. Wahrscheinlich wartet sie darauf, dass wir spätestens nach der Vorstellung unsere Verlobung bekannt geben.

      Auf einmal kam sie sich vor wie ein gefangener Vogel.

      »Doch pfiff auch dreist die feile Dirne,

      die Welt, ihn aus: Er ist verrückt!

      Ihm hatte leuchtend auf die Stirne

      der Genius seinen Kuss gedrückt.

      Und wenn vom holden Wahnsinn trunken,

      er zitternd Vers an Vers gereiht,

      dann schien auf ewig ihm versunken

      die Welt und ihre Nüchternheit.

      In Fetzen hing ihm seine Bluse,

      sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot,

      er aber stammelte: O Muse!,

      und wusste nichts von seiner Not …«

      Er schreibt über sich selbst, dachte Margarethe und beobachtete die schmale Gestalt Johann Nietnagels, der da vorn im Musiksaal in seinem schäbigen Leihhausfrack stand und der versammelten Gesellschaft seine Gedichte vortrug. Wie angenehm dieser Hauch von Selbstironie ist …

      Unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen wie dieser Dichter da. So weit zu kommen, dass es einem nichts mehr ausmacht, wenn die ganze Welt einen für verrückt erklärt …

      Nein, das war ihr unvorstellbar.

      Eine Frau stand und fiel mit dem Ruf, den sie in der Welt hatte. Gab es sie überhaupt hinter diesem Ruf? War sie selbst mehr als das, was sie schien, mehr als eine charmante junge Dame der besten Gesellschaft? Hatte sie eine Essenz, ein unaustauschbares Inneres?

      Manchmal meinte sie es zu spüren. Doch wenn sie danach greifen wollte, entglitt es ihr. Nur die Sehnsucht war da, vage, unbestimmt.

      Was bliebe von ihr, wenn ihr alles genommen würde, was sie scheinbar ausmachte: ihre Kleider, ihr Schmuck, ihr gepflegtes Äußeres, ihre Umgebung – die Herkunft aus hohem Haus, die Tochter eines Reichstagsabgeordneten, die umworbene Erbin mit glänzender Mitgift und klangvollem Namen?

      Johann Nietnagel hatte alles aufgegeben, was ihn einmal äußerlich ausgemacht hatte, und folgte seiner inneren Stimme. Sohn eines Juristen, eines Bürgermeisters solle er sein, hatte Maman gesagt, Literatur und Philosophie studiert haben. Er hätte eine gesicherte Existenz als Gymnasialprofessor haben können – wenn er sich nicht ganz der Muse geweiht hätte. Maman fand das interessant. Papa dumm. Und sie?

      »… ein Träumer, ein verlorner Sohn!«, beendete Johann Nietnagel seinen Vortrag.

      Wohlwollender Applaus. »Naturalismus in reinster Ausgestaltung«, hörte Margarethe ihre vor ihr sitzende Mutter in bedeutungsvollem Ton Frau Doktor Schneider zuflüstern, der Gattin des Hausarztes. Diese nickte mit Kennermiene.

      Der Dichter blätterte in seinem Manuskript, nahm eine neue Seite zur Hand. »Ein Bild«, verkündete er und begann mit seinen Versen tatsächlich vor Margarethes innerem Auge ein Bild entstehen zu lassen: eine reiche Villa, wie sie hier in der Nachbarschaft im Westend zu stehen schien, doch dunkel verhangen, jeder Ton erstickt, die Dienerschaft um völlige Lautlosigkeit bemüht. Ein Todesfall in der Familie?, fragte sie sich, mehr und mehr in den Bann des Gedichtes, in den Bann dieser suggestiven, das unverkennbar Tragische untermalenden Stimme gezogen:

      »Der hochgeborne Hausherr, Exzellenz,

      schwankt wie ein Rohr umher auf bleicher Düne,

      die erste Redekraft des Parlaments

      fehlt heute abermals auf der Tribüne …«

      War das nicht Papa?

      »… schon viermal war der greise Hausarzt da

      und meinte, dass es sehr bedenklich stünde.«

      Doch dann auf einmal änderte sich der Ton der Stimme, nahm etwas Ironisch-Distanziertes an:

      »Nach Eis und Himbeer wird sehr oft geschellt,

      doch mäuschenstill ist es im Krankenzimmer …«

      Sie wandte keinen Blick mehr von diesem jungen Mann dort vorn, der unverkennbar spöttische Zug um seinen Mund, wie er immer weiter die Atmosphäre des Hauses beschrieb, das ob des Geschehens im Krankenzimmer den Atem anhielt. Doch nein, in seinen Augen blitzte nicht nur der Spott, das war etwas Heißeres:

      »… die Luft umher ist wie gewitterschwül,

      denn ach, die gnäd' ge Frau hat heut – Migräne!«,

      schloss Johann Nietnagel. Eine Männerstimme im Publikum lachte laut auf, war das nicht Papa? Jedenfalls applaudierte er mit unverkennbarem Vergnügen, er, dem diese literarischen Abende in aller Regel eine lästige gesellschaftliche Pflicht waren. Auch das eine oder andere weitere Lachen war vernehmlich, vereinzeltes Klatschen. Universitätsprofessor Unschlicht strahlte über das ganze Gesicht. Doch die versteinerten Mienen und die Hände, die unbewegt im Schoß liegen blieben, überwogen. Und das Schweigen, das von diesen Mienen und Händen ausging, verbreitete sich rasch und erstickte auch die anfänglichen Äußerungen des Gefallens.

      »Was bildet dieser Mensch sich ein!«, zischte eine empörte Frauenstimme.

      »Unerhört«, sagte Hauptmann von Klaasen laut. »Der reine Klassenhass!«

      Die Mutter erhob sich. »Meine Damen, meine Herren. Meine Tochter möchte gern ein Klavierstück zu Gehör bringen, war es nicht die Appassionata, Margarethe?«

      Wie? Margarethe zuckte zusammen. Hatte sie recht gehört? War sie soeben von ihrer Mutter als Pianistin angekündigt worden?

      Zwar hatte sie die Beethoven-Sonate in den vergangenen Monaten so intensiv studiert, dass sie in der Lage sein sollte, sie vor Publikum zum Besten zu geben, aber das war nicht abgesprochen, sie hatte ein Glas Champagner und etwas Wein getrunken, was sie vor dem Klavierspielen niemals tat, und der erste und dritte Satz stellten hohe Anforderungen an ihr technisches Können und erforderten allerhöchste Konzentration.

      Ein beschwörender Blick der Mutter traf sie. Maman hatte ein untrügliches Gespür dafür, wann gesellschaftliche Situationen zu kippen drohten. Und ebenso untrüglich wusste sie in jeder Situation, wie sie zu retten war. Nun also war Margarethes Part gefragt.

      Gehorsam erhob sich Margarethe, neigte leicht den Kopf auf den freundlichen Beifall hin, der ihr galt und nicht dem Dichter dort vorn. Noch immer stand er hinter dem Rednerpult und musterte das Publikum mit Augen, als wolle er gleichsam eine innere Fotografie anfertigen.

      »Migräne ist eine furchtbare Krankheit, ein Leiden, das sich keiner vorstellen kann, der es nicht erlebt hat!«, verkündete Frau Universitätsprofessor Unschlicht mit schriller Stimme, »und dieser Mensch, dieser Mensch! Herr Doktor, sagen Sie doch etwas dazu!«

      Der Hausarzt Dr. Schneider lächelte leise. »Gewiss, Frau Universitätsprofessor, gewiss kann Migräne ein furchtbares Leiden darstellen. Eine schwerwiegende und äußerst quälende Erkrankung, ohne Zweifel. Nur – wir wollen doch nicht leugnen, dass die Ausrede Migräne gelegentlich auch für anderes herhalten muss, für leichte Befindlichkeitsstörungen und seelische Verstimmungen, womöglich auch für die eine oder andere Unlust, nicht wahr?«

      »Und das, meine ich, hat der Dichter ganz vorzüglich angedeutet mit seinem Verweis auf Eis und Himbeeren!«, schaltete sich Frau Doktor Schneider, eine geborene Baronesse von Zietowitz, lebhaft ein. »Wer jemals eine wirkliche Migräne hatte, weiß, dass da weder an Eis mit Himbeeren noch an sonst irgendetwas Essbares auch nur im Entferntesten zu denken ist.«

      »Nehmen