Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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Teil …«

      »Meine Damen, meine Herren«, sagte Margarethe laut und verneigte sich noch einmal, »wenn Sie mir Ihr wohlwollendes Gehör schenken würden? Blätterst du mir um, Maman?«

      Sie klappte den Deckel des Flügels auf, legte die Noten zurecht, sandte ein Stoßgebet gen Himmel und begann zu spielen. Der erste Satz mit seinem düster drohenden Bass und dem schicksalhaften Klopfmotiv forderte sie bis zum Äußersten. Dennoch bedachte sie bei ihrem Spiel auch noch, was für eine Figur sie dabei abgab. Nicht zu exaltierte Körperbewegungen, das wirkt bei einer Dame leicht deplatziert, pflegte die Mutter sie zu ermahnen.

      Mit einigen Patzern, die sie gekonnt überspielte, kam sie heil durch das Stück. Sie atmete heimlich auf und widmete sich dem technisch einfacheren zweiten Satz mit mehr Empathie, vergaß endlich die Zuhörer, vergaß, auf ihr Äußeres zu achten, war nur noch bei dieser innig singenden Musik, spürte etwas in sich weit werden und sehnen und hoffen. Und diese Einheit mit der Musik blieb ihr auch bei dem dritten Satz erhalten, den sie in furiosem Tempo nahm. Bald neunzehn Jahre täglicher Etüden hatten ihre Finger geläufig gemacht, ihre Technik geschult, ließen sie auch dem verzweifelten Rasen der Sechzehntel, dem Presto der galoppierenden Achtel gewachsen sein. Wie einen Hafen erreichte sie aus dem ungestümen Lauf heraus die drei Schlussakkorde.

      Stürmischer Applaus brachte sie in den Saal zurück. »Sie sind eine wahre Künstlerin der Tasten«, erklärte Hauptmann von Klaasen und neigte sich über ihre Hand. An seinem Arm wechselte sie in das angrenzende Speisezimmer hinüber, in dem ein Kuchenbuffet errichtet war. Johann Nietnagel stand im Erker ans Fensterbrett gelehnt und schob mit unübersehbarem Appetit ein Stück Apfelkuchen in sich hinein. Hatte er ihrem Klaviervortrag etwa gar nicht beigewohnt?!

      »Dieser Dichter scheint zu befürchten, gleich des Hauses verwiesen zu werden, und will zuvor noch sein Honorar verspeisen«, flüsterte sie Hauptmann von Klaasen süffisant zu. Woher kam der feine Stich in ihrer Brust, den sie dabei verspürte? Als habe sie soeben Verrat begangen.

      Der Hauptmann gab ihr lachend recht.

      »Stellen Sie sich vor«, setzte sie noch eins obendrauf, »er ist von meiner Mutter dazu auserkoren, die Dialoge zu schreiben, mit denen wir beim Wohltätigkeitsfest Napoleon und Luise geben sollen.«

      »Das ist nicht möglich?«, fragte er entsetzt. »Ihm fehlt mit Sicherheit der patriotische Ernst!«

      Sie zuckte lächelnd die Achseln. »Meine Mutter hat nun einmal eine Schwäche für Randfiguren des Kulturbetriebes. Lassen Sie mich nur machen! Ich werde klarstellen, in welchem Sinn das Stück verfasst sein soll.«

      Damit trennte sie sich von Hauptmann von Klaasen und schlenderte zu dem Dichter hinüber.

      »Nun?«, fragte sie kühl und sah einige Zentimeter an ihm vorbei zum Fenster hinaus in den beleuchteten Garten. »Hat meine Mutter Sie von dem Auftrag schon in Kenntnis gesetzt, ein Stück über Napoleon und Königin Luise zu schreiben?«

      »Sie ist heute vor meinem Vortrag mit dem Vorschlag auf mich zugekommen«, erwiderte er und stellte den Teller beiseite. »Wer weiß, ob sie es danach noch getan hätte! Aber ich musste Ihrer Frau Mutter ohnehin mit meinem aufrichtigen Bedauern – sie ist eine bewunderungswürdige Ausnahmeerscheinung in dieser Gesellschaft, wenn ich mir das zu bemerken erlauben darf –, ich musste ihr leider abschlägigen Bescheid geben. Ich fertige keine Auftragsarbeit.«

      Sie sog hart die Luft ein, starrte ihn an. Dann wurde ihr bewusst, wie undamenhaft ihr Verhalten war. Dennoch senkte sie den Blick nicht.

      Johann Nietnagel strich sich mit heftiger Geste die Haare aus der Stirn. »Zudem entspricht der Stoff ganz und gar nicht meinem Interesse. Ich bin an der Gegenwart interessiert, nicht an der Vergangenheit. Ein unbestechlicher Chronist unserer Zeit will ich sein, einfangen, was ist, ihm eine der Wirklichkeit, der Natur möglichst nahe Form geben. Die Wahrheit schreiben. Und so auch den Stummen meine Stimme leihen. Verstehen Sie?«

      Wider Willen nickte sie. Da hatte ihre Mutter geglaubt, ein gutes Werk zu tun, wenn sie diesem Dichter einen bezahlten Auftrag gab, und nun wies dieser ihn einfach zurück. Und sie selbst, sie hatte gemeint, ihm vorschreiben zu können, in welchem Sinne er das Ganze verfassen sollte! Wie lächerlich sie sich damit gemacht hätte, wenn sie es ausgesprochen hätte! Diese Unabhängigkeit …

      »Aber – Sie müssen doch – können Sie denn – davon leben?«, fragte sie stockend.

      Er lachte. Klang Bitterkeit in diesem Lachen oder Triumph? »Nach Ihren Maßstäben sicher nicht«, erwiderte er. »Nach meinen schon. Auch wenn mein Frack aus dem Leihhaus ist, wie Sie zweifellos bemerkt haben. Nach diesem Abend werde ich ihn ohnehin nicht mehr benötigen. Ich glaube nicht, dass man mich so bald wieder in Ihre Kreise einladen wird. Man wird mir meinen Spott über die Migräne der hochgeborenen Damen nicht verzeihen.«

      Dies klang so ironisch, so gar nicht schuldbewusst oder sich selbst bemitleidend, dass sie unwillkürlich lächelte. »Nun, meine Mutter hat in dieser Hinsicht ein weites Herz. Frau Universitätsprofessor Unschlicht dagegen mit Sicherheit nicht. Sie würde ihre Migräne zweifellos gerne im gleichen Umfang zelebrieren, wie es Ihr Gedicht beschreibt – leider fehlen ihr dafür die goldbetresste Dienerschaft und auch der hochgeborne Hausherr. Dafür hat ihrem Gatten Ihr Gedicht umso besser gefallen. Ich meine, er hatte eine geradezu diebische Freude daran, und das zählt mehr als die Gekränktheit seiner Gattin. Er ist ein bedeutender Romanist.«

      »Ich weiß. Ich habe eine Vorlesung über die französischen Naturalisten bei ihm gehört und eines seiner Seminare besucht.«

      Die Arroganz dieses Menschen war unerträglich. Warum musste er ihr permanent das Gefühl geben, dass alles, was sie sagte, falsch oder deplatziert sei?

      »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, fuhr Herr Nietnagel fort. »Nur das ist mir unverzichtbar: Freiheit und Würde. Gerechtigkeit. Vor allem aber die Kunst. Nach ihr suche ich, nach der wirklichen Wahrheit. Ich brauche keinen goldenen Käfig. Ich lebe im Hinterhof einer Mietskaserne unter Menschen, die das Leben kennen, wie es ist. Von ihnen habe ich gelernt, mit wie wenig man überleben kann. Im Gegensatz zu mir haben sie niemals eine Alternative zur Armut gehabt. Sie sind hineingeboren.«

      »Du solltest dich langsam nach Stoffen für das Kleid umsehen«, sagte die Mutter, stellte ihre Kaffeetasse behutsam hin und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab. »Man kann sich gar nicht früh genug darum kümmern. Natürlich kommt nur schwere Atlasseide infrage. Ich denke, wir werden uns mit der Ausstattung an unserem Gemälde orientieren.«

      Margarete nickte. Sie hatte sich das berühmte Bildnis der Königin Luise sehr genau angesehen, das sie in Kopie im Salon hängen hatten: die Königin stehend hinter dem sitzenden König. Die Vorstellung, sich in einem solch locker fließenden Empirekleid zu präsentieren, mit hochgeschnürtem Busen, doch sonst ohne Korsett, so ganz natürlich, hatte etwas Reizvolles. Fast als tue sie heimlich etwas Verbotenes – und doch in aller Öffentlichkeit. Und diese lockere Frisur würde ihr auch gut stehen. Überhaupt: die berühmteste Königin der preußischen Geschichte lebendig werden zu lassen, das war ein Gedanke, dem sie immer mehr abgewinnen konnte, je mehr sie sich damit beschäftigte. Und dann auch noch zu einem guten Zweck …

      Effi La Fontière, eine entfernte Nichte von General von Klaasen, die sich gelegentlich als Schriftstellerin hervortat, würde das Gedicht verfassen, nun, da Johann Nietnagel als Dichter ausschied. Margarethes Gedanken blieben einen Moment bei ihm hängen. Wirklich bodenlos arrogant, wie er sich verhalten hatte! Und warum um alles in der Welt versagten ihre Konversationsgabe und Schlagfertigkeit ausgerechnet im Umgang mit ihm?

      Ach, was machte es! Sie würde ihn nie wiedersehen.

      Die gute Effi würde zweifellos ein Stück schreiben, das dem Anlass genau angemessen war. Und das die Königin ins rechte Licht rückte.

      Zum Glück musste sie Königin Luise ja nicht in einer Szene mit ihrem Gatten darstellen, von dem es hieß, sie sei ihm in großer Liebe verbunden gewesen, sondern mit Napoleon, dem sie mit einer Bitte für ihr Vaterland gegenübertreten würde. Da war sie nicht gezwungen, etwas anderes als Hoheit in ihren Blick zu legen, vielleicht auch eine