Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin


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»Du weißt, die Brosche, die an der Schulter das Kleid zusammenhält. Etwas Vergleichbares besitzt du doch nicht, Maman?«

      »Nein, das nicht«, erwiderte die Mutter. »Ich habe mir auch schon über den Schmuck den Kopf zerbrochen. Als Diadem können wir das meiner Urgroßmutter verwenden. Auch wenn es nicht identisch ist, es passt hervorragend. Es stammt aus der gleichen Zeit und meine Urgroßmutter war schließlich Prinzessin aus einem Haus, das Mecklenburg-Schwerin in nichts nachstand. Aber die Brosche – es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als sie nach der Vorlage anfertigen zu lassen. Was meinst du, Rüdiger?«

      Der Vater sah von der Zeitung auf. »Das hört sich an, als ob mich eure Wohltätigkeit teuer zu stehen kommen würde«, meinte er trocken. »Es käme mich offensichtlich billiger, einen erklecklichen Betrag in deinen Wohltätigkeitsverein zu spenden, liebste Augusta, als diesen Bühnenzauber zu finanzieren, von dem noch offen ist, ob er als Einnahmen überhaupt einspielen wird, was er mit Sicherheit an Ausgaben kostet. Aber wenn es meine hinreißende Tochter glücklich macht!«

      Diese Worte tauchten blitzartig die ganze Situation in ein gleißendes Licht. Warum hatte sie das alles bisher nicht gesehen? Sich auch noch eingebildet, ein gutes Werk zu tun?

      »Wie prosaisch du immer redest, Rüdiger!«, erwiderte die Mutter leicht verärgert. »Wenn du in der Bank deine Bilanzen im Kopf hast, schön und gut, dort gehören sie hin. Aber hier geht es doch wahrhaftig um anderes! Und zugleich um ein gesellschaftliches Ereignis, das auch deinem Ruf und damit deinem Erfolg als Bankier und als Reichstagsabgeordneter zugutekommen wird, wie du sehr wohl weißt. Im Übrigen meine ich natürlich keine echte Kopie der Brosche. Eine wirklich gute Imitation aus böhmischem Glas tut es auch. Und das Kostüm lässt sich ohne Weiteres in ein paar Jahren noch einmal bei einem Kostümball tragen, sodass die Ausgabe gerechtfertigt ist.«

      »Gewiss, gewiss«, begütigte der Vater.

      »Aber Papa hat recht!«, rief Margarethe. Wie eine billige Farce erschien ihr plötzlich dieses ganze Wohltätigkeitsgesäusel. Und auf einmal war die längst ins Vergessen verdrängte Erinnerung an das Kellerloch von Anna Brettschneider wieder da. »Von dem Geld, das wir hier verplanen, ließe sich für Anna Brettschneider nicht nur eine Nähmaschine kaufen, sondern wahrscheinlich auch noch eine halbe Wohnungseinrichtung!«

      »Anna Brettschneider?«, fuhr die Mutter auf. »Ich dachte, das wäre erledigt! Du hattest den Auftrag, im Namen des Wohltätigkeitsvereins dieser Frau einen Absagebrief zukommen zu lassen. Hast du das nicht getan?«

      Margarethe schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht über mich gebracht.«

      »Ach«, erwiderte die Mutter, »meinst du, es ist besser für die arme Frau, wenn sie sich weiter in falschen Hoffnungen wiegt?«

      »Aber wir können sie doch nicht so im Stich lassen!«, widersprach Margarethe, um das schlechte Gewissen zum Schweigen zu bringen, das sich auf einmal leise meldete.

      »Meine liebe Tochter«, erwiderte die Mutter, »das Elend in den Hinterhöfen ist schier uferlos – und bisher hat es dich nicht im Geringsten interessiert. Ich erinnere mich, dass du meine wiederholten Aufforderungen, dich in unserem Verein zu engagieren, mit der Begründung abzulehnen pflegtest, das sei dir zu langweilig. Nun hast du zum ersten Mal an einem winzigen Zipfel einen Blick auf das Elend erhascht und meinst, das wäre der Nabel der Welt. Aber solche verlassenen oder verwitweten Frauen, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, gibt es wie Sand am Meer. Und mehr noch kinderreiche Frauen von Trunkenbolden, von Invaliden und Kranken, von Arbeitsscheuen oder miserabel verdienenden Ungelernten, bei denen es vorne und hinten nicht reicht. Was glaubst du denn, warum ich mit einigen gleichgesinnten Damen unseren Verein Misericordia gegründet habe! Genau um solchen Frauen und ihren Kindern zu helfen. Aber wir können nun einmal nicht die ganze Welt retten.«

      Die Worte der Mutter waren wahr, sie konnte nichts dagegen einwenden. Aber dennoch sollte sie vielleicht noch einen Versuch unternehmen?

      Sie wandte sich an ihren Vater: »Papa, bitte!«

      Er hob die Hände. »Ich halte es mit dem Alten Fritz: Ich bin für Gewaltenteilung. Die Wohltätigkeit ist eindeutig das Ressort deiner Mutter, ich werde mich hüten, mich da einzumischen. Ich bin lediglich der Mittelgeber, und was ich gebe, das lege ich in ihre Hände. Dort ist es bestens aufgehoben.« Damit versenkte er sich wieder in seine Zeitung.

      »Was den Text der Aufführung anbelangt«, wechselte die Mutter in einem Ton das Thema, dass Margarethe wusste, die Frage Anna Brettschneider war ein für alle Mal erledigt, »so sollten wir uns gelegentlich mit Frau La Fontière zusammensetzen. Ich fürchte, die Gute wird uns sonst ein unerträglich sentimentales Rührstück abliefern. Ja, was ist?«, wandte sie sich zu dem Diener um, der geräuschlos in den Raum getreten war und mit dezentem Hüsteln an der Tür des Wintergartens stehen blieb, in dem die Familie gelegentlich zu speisen pflegte, wenn man ganz unter sich war so wie heute.

      »Hauptmann von Klaasen bittet darum, seine Aufwartung machen zu dürfen«, antwortete dieser.

      »Hauptmann von Klaasen?«, wiederholte die Mutter lebhaft. »Wir lassen bitten!« Ein bedeutungsvoller Blick traf Margarethe.

      Nicht auch das noch! Was soll ich tun, wenn er mir einen Antrag macht? Ein Ja schien ebenso unmöglich wie ein Nein.

      Wenn sie Nein sagte, so würde sie ihn kränken. Mit Sicherheit würde er sie kein zweites Mal fragen, ein Klaasen hielt auf seine Ehre. Und eine Partie wie Hauptmann von Klaasen, von der jede junge Dame ihrer Kreise träumen würde, schlug man doch nicht aus!

      Aber die Werbung annehmen, ohne Liebe …?

      War das nicht Verrat? Verrat an ihm – Verrat an der Liebe – Verrat vielleicht sogar an sich selbst? Doch woher sollte sie wissen, ob nach ihm noch ein anderer kommen würde und vor allem: ein besserer! Fast die Hälfte der Damen der oberen Kreise blieb unvermählt. Sollte sie wirklich ewig dieses Leben weiterführen, wie sie es jetzt tat, diese ganze Nutzlosigkeit und Belanglosigkeit? Diese gähnende Langeweile? Papas hinreißende Tochter.

      Hier eine Gesellschaft und dort eine Landpartie, hier die Oper, dort ein Ball, die Aufführung beim Wohltätigkeitsfest, ein bisschen lesen, ein bisschen musizieren, ein bisschen malen oder sticken und hinter dem allen das öde Nichts. Keine Aufgabe, kein Ziel.

      Es gab keinen anderen Weg, ein sinnerfülltes Leben zu führen, als zu heiraten. Wie Maman ein großes Haus führen, in dem Künstler und Gelehrte ein und aus gingen, es zu einem Mittelpunkt der Gesellschaft machen. Und vor allem: eine eigene Familie haben, Kinder.

      Das war die Aufgabe, die einzige. Mit Hauptmann von Klaasen rückte sie greifbar nahe. Sein Name war so klangvoll, dass es ein Leichtes sein würde, ihr Haus zu einem gesellschaftlichen Anziehungspunkt zu machen.

      Das alles sprach für ein Ja auf den Antrag, der kommen würde, kommen musste. Wenn da nicht diese Furcht davor wäre, sich für alle Zeit zu binden – und womöglich an den Falschen. Dieses Gefühl, dass da noch etwas sein musste, etwas Wesentliches, was sie nicht kannte – und was sie mit Hauptmann von Klaasen niemals kennenlernen würde.

      Liebe musste sich doch anders anfühlen als diese gewisse Vertrautheit, die sie dem Hauptmann gegenüber empfand. Liebe musste doch etwas so Mitreißendes sein, etwas so durch und durch Erfüllendes, dass es keine Zweifel mehr gab.

      Ob ihm wirklich an ihr gelegen war – oder nur an ihrer Mitgift?

      Verlass dich ganz auf dein Herz, hatte die Mutter geraten, als sie einmal mit ihr darüber gesprochen hatte, wie man denn den Richtigen erkennen könne. Es wird dir sagen, was richtig ist. Aber was sollte man tun, wenn das Herz schwieg? In ihren jungen Jahren hatte sie sich mehrfach schwärmerisch verliebt, war bald für den einen Offizier entflammt gewesen, bald für den anderen. Aber diese untrügliche Stimme des Herzens, das Dieser oder keiner hatte sie nie gehört.

      Vielleicht hatte sie gar kein Herz. Und alles Warten würde vergebens sein, das, worauf sie wartete, würde niemals eintreten, und eines Tages würde sie unversehens eine alte Jungfer sein und kein Mann würde je mehr um ihre Hand anhalten.

      Wahrscheinlich lag es an ihr.

      Sie